Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 94 / III / 2020

ENDOIOS
Facts and Fiction

Die Meisterforschung bildete ab dem späteren 19.Jh. vor allem aber über weite Strecken des 20.Jhs. ein beliebtes Betätigungsfeld der Klassischen Archäologie. Obwohl sie in den letzten Jahrzehnten zunehmend aus der Mode gekommen ist, bilden viele in diesem Arbeitsbereich generierte Forschungserzählungen bis heute die Basis für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit antiker Plastik.
So gilt Endoios auf diesem Gebiet als Schlüsselpersönlichkeit der Spätarchaik, obwohl ihm kein einziges erhaltenes Denkmal mit Sicherheit zugeordnet werden kann. Die Vorstellungen zu seiner Person bewegen sich im Spannungsfeld zwischen tatsächlichen und vermeintlichen archäologischen Evidenzen, kaiserzeitlich-antiquarischen und neuzeitlich-archäologischen Erzählungen sowie seiner Bedeutung als kunsthistorische Chiffre. Anhand dieses gerühmten Meisternamens kann exemplarisch herausgearbeitet werden, was dazu an Erkenntnissen tatsächlich belegbar ist und wieviel davon nur durch über Forschungsgenerationen tradierte, stetig wiederholte und variierte Wissenschaftserzählungen immer mehr in die Nähe gesicherter Erkenntnis gerückt wurde.
Die epigraphischen Quellen auf signierten Statuenbasen des 6.Jh. v.u.Z. vermitteln ein gänzlich anderes Bild vom Schaffen des Endoios als die in den viel späteren, kaiserzeitlichen Literaturquellen überlieferten Werkzuschreibungen. Unter letzteren finden sich so berühmte Kultstatuen wie jene der Artemis Ephesia oder der Athena Polias auf der Athener Akropolis. Eine Schüsselrolle kommt in diesem Zusammenhang der bekannten Sitzstatue Akr. 625 zu. Diese auch in ihrer aktuellen Aufstellung im Akropolismuseum ausdrücklich als „Endoios-Athena“ (Abb.: Die sog. „Endoios-Athena“ stammt aus einer spätantiken Mauer, die in ein türkisches Vorwerk der Akropolisbefestigung integriert war, um 530/25 v.u.Z.; erh. Höhe 147 cm, Inselmarmor) ausgewiesene Plastik wird seit dem 19.Jh. mit einer Pausaniasstelle verbunden, die von einer mit dem Namen Endoios signierten Votivstatue handelt. Obwohl seine Urheberschaft unbewiesen ist, dient die Sitzfigur seither häufig als Ausgangs- und Anhaltspunkt für Forschungsdiskurse zu Stil und Œuvre des schon in der kaiserzeitlichen Meisterforschung für seine altehrwürdigen Bildwerke gerühmten und als „Schüler des Daidalos“ nobilitierten Bildhauers.
Die Rahmenbedingungen für die Forschung zu Endoios bilden die Kontexte und Vorstellungen, welche im Verlauf der Rezeptionsgeschichte aus dem jeweils aktuellen Kenntnisstand hinsichtlich der generellen Entwicklungslinien archaischer Rundplastik, der politisch-historischen und sozialen Voraussetzungen sowie der Produktionsbedingungen der Spätarchaik entwickelt wurden. In diesen Zusammenhängen sind die modernen Konstruktionen eines Œuvres, die zum Teil in regelrechten Zuweisungskaskaden endeten, ebenso bemerkenswert wie die häufig feststellbaren Adaptierungen der traditionellen Konzeption einer Endoios-Vita an die jeweils vorliegenden Forschungsintentionen.
Schon der Name des Kulturheroen Daidalos stand in der Antike synonym sowohl für bestimmte Vorstellungen und Konzeptionen von Kunstentstehung als auch für gewisse Kunstcharakteristika. Die Chiffre Daidalos erfuhr bereits im Altertum verschiedentlich Bedeutungsverschiebungen und manifestierte sich in der modernen Forschung schließlich im Begriff der Daidalischen Kunst, welcher für jene Epoche der griechischen Kunst Verwendung findet, die u.a. durch das Aufkommen der griechischen Großplastik gekennzeichnet ist. Ebenso fungiert auch der Meistername Endoios, auf welchen im Rezeptionsverlauf verschiedene Vorstellungen übertragen wurden, die ursprünglich seinem angeblichen Lehrmeister anhafteten, sowohl in der Kaiserzeit wie im modernen Forschungsdiskurs als Kunst- und Stilchiffre für bestimmte Charakteristika spätarchaischer Plastik. Daher erscheint es aus ontologischer Sicht zweckmäßig, in diesem Kontext den Forschungsbegriff Endoiische Kunst einzuführen.

© Michael Rakob
e-mail: michael.rakob@i-med.ac.at

This article should be cited like this: M. Rakob, Endoios. Facts and Fiction, Forum Archaeologiae 94/III/2020 (http://farch.net).



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