Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 94 / III / 2020

DER MINOISCHE GENIUS BEIM STIEROPFER VOR DER GÖTTIN
Frühägäische Repräsentationsstrategien anhand eines mykenischen Siegelbildes aus Pylos

Unter den gestempelten Tonplomben aus dem mykenischen Palast von Pylos befinden sich Beispiele eines Siegelbildes (CMS I, Nr. 379), dessen Ikonographie zwar bislang einzigartig ist, uns aber dennoch typische Eigenheiten der frühägäischen Bildkunst vor Augen führt. Die auf drei Plombenfragmenten erhaltenen Abdrücke eines Goldringes lassen sich stilistisch den Perioden SBZ IIB-IIIA1 (ca. 1430-1370 v.u.Z.) zuordnen und erlauben die Rekonstruktion in Abb. Dieses singuläre Bildmotiv zeigt eine zentrale Gottheit vom Typus der ‚Göttin mit Snake-frame’, die zu beiden Seiten jeweils von einem Stier und einem Mischwesen, dem ‚minoischen Genius’, mit Waffe flankiert wird. Im Gegensatz zu Löwe oder Greif zählt der Stier in der minoisch-mykenischen Bildkunst jedoch in der Regel nicht zu den ‚Animals of power’, den Schutzwesen von Gottheiten, und ein bewaffnetes Mischwesen macht in diesem sakralen Kontext wenig Sinn. Archäologische und ikonographische Vergleiche erlauben vielmehr eine Definition des zwischen den Pfoten der ‚minoischen Genien’ abgebildeten Messers mit einschneidiger, gekrümmter Klinge als Schlacht- oder Opfermesser, was inhaltlich gut den geläufigen Bildmotiven des ‚minoischen Genius’ beim Herbeiführen oder Transportieren von (Opfer-)Tieren wie Hirsch und Stier in der ägäischen Bildkunst entspricht. Somit lassen sich die flankierenden Figurenpaare im Siegelbild aus Pylos als ‚minoischer Genius’ mit Schlachtmesser und herbeigeführtem Opferstier interpretieren.

Diese Andeutung eines prospektiven Opferrituals als Seitenmotiv im Rahmen der Darstellung einer ‚Potnia theron’ im Siegelbild aus Pylos bildet eine bislang einzigartige Variante des Motivtypus der ‚Göttin mit Snake-frame’ und veranschaulicht uns eine Reihe spezifischer Eigenschaften der frühägäischen Bildsprache. So wurde durch den Einsatz des mischgestaltigen ‚minoischen Genius’ offensichtlich das ikonographische Tabu umgangen, dass eine anthropomorphe Gestalt (Adorant/in, Priester/in oder Herrscher/in) unmittelbar vor einer Gottheit ein Opfer vollzieht, d.h. die menschliche Sphäre mit jener der Götterwelt vermischt wird. Bemerkenswert erscheint auch die Gestaltung der Göttin im Zentrum mit ihrer symbolbeladenen Krone, die sich vom traditionellen minoischen ‚Snake-frame’ unterscheidet und engere Verwandtschaft mit hethitisch-nahöstlichen Hörnerkronen aufweist. Zwar ist das Motiv des ‚minoischen Genius’ mit Opfermesser in der minoisch-mykenischen Ikonographie bisher singulär, doch besitzt es verblüffende, wesentlich ältere Parallelen im Ägypten des Mittleren Reichs: Die für den ‚minoischen Genius’ vorbildhafte Nilpferdgottheit Ashaheru oder Taweret hält auf nahöstlichen Zaubermessern und Skarabäen ein ähnliches Messer in ihren Pfoten – ein Motiv, das in der gesamten Frühägäis bislang einzig und allein im Siegelbild aus Pylos eine Entsprechung findet. Dieses außergewöhnliche und hochgradig erklärungsbedürftige Siegelbild erlaubt somit Einblicke in ikonographische Gestaltungsprinzipien der Altägäis wie Standardisierung und Variabilität, Imitation und Kreativität, in Darstellungstabus und ‚Substitut-Figuren’, in minoische sowie nahöstliche Vorbilder und ihre ‘Interpretatio mycenaea’.

© Fritz Blakolmer
e-mail: fritz.blakolmer@univie.ac.at

This article should be cited like this: F. Blakolmer, Der minoische Genius beim Stieropfer vor der Göttin. Frühägäische Repräsentationsstrategien anhand eines mykenischen Siegelbildes aus Pylos, Forum Archaeologiae 94/III/2020 (http://farch.net).



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