Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 86 / III / 2018

THE MISSING MOTHER
Zur fehlenden Darstellung stillender Mütter in der minoischen Bilderwelt

In der ägäischen Archäologie wird mit dem Ausdruck The Missing Ruler auf den Umstand verwiesen, dass es unter den minoischen wie mykenischen Bildzeugnissen so gut wie keine Hinweise auf herrschaftliche Repräsentation gibt. Die wenigen möglichen Beispiele bilden im Vergleich zu der prominenten Rolle, die der Herrscherikonographie in anderen bronzezeitlichen Hochkulturen des ostmediterranen Raumes zukommt, nur eine Randerscheinung.
Mit diesem Phänomen grundsätzlich vergleichbar ist die Tatsache, dass im mannigfaltigen Repertoire der minoischen Bilderwelt des 2.Jts. v.Chr. keine stillenden Mütter dargestellt werden. Dies überrascht aus zweierlei Gründen: Zum einen nehmen Frauen in der figuralen Kunst der Jüngeren Palastzeit auf Kreta (ca. 1700–1450 v.Chr.) eine dominierende Stellung ein und zum anderen findet sich das Motiv der stillenden Mutter bei zahlreichen bronzezeitlichen Kulturen, mit denen Kreta nachweislich in Kontakt stand.
Zu diesen Kulturen, bei denen die stillende Mutter als Bildgedanke existierte, zählt das mykenische Griechenland. Die Darstellung der so genannten Kourotrophos ist auf überwiegend palastzeitliche Terrakottafigurinen beschränkt; sie zeigen eine zumeist stehende (selten thronende) weibliche Figur, die einen (selten zwei) Säugling(e) an die Brust hält. Vor dem Hintergrund der starken Abhängigkeit mykenischen Kunstschaffens von minoischen Vorbildern ist die Existenz dieser Figurinen keinesfalls selbstverständlich und lädt zu weiterführenden Überlegungen ein. Dementsprechend hat man aus dem Gegensatz zwischen fehlendem und vorhandenem Mutterbild die weitreichende Schlussfolgerung gezogen, dass dieser Befund unterschiedliche gesellschaftliche Strukturen reflektiert: Auf der einen Seite das minoische Kreta, dessen Bildzeugnisse die bedeutende Rolle der Frauen im öffentlichen Leben widerspiegeln (da Frauen häufig im Zentrum öffentlicher, zumeist kultisch konnotierter Aktivitäten stehen), und auf der anderen Seite das mykenische Festland, für das die explizite Darstellung stillender Mütter einen im Wesentlichen auf das häusliche Umfeld beschränkten weiblichen Aktionsradius impliziert.
Vor einer derart vereinfachenden Gegenüberstellung, die an die längst als unzulänglich erkannte Vorstellung von ‚blumenliebenden Minoern‘ und ‚kriegsbegeisterten Mykenern‘ erinnert, ist grundsätzlich Vorsicht geboten. Darüber hinaus zeigt das eingangs referierte Beispiel einer nicht greifbaren Herrscherikonographie, wie irreführend Schlussfolgerungen sein können, die auf der Interpretation nicht-dargestellter Motive beruhen: Auch wenn im mykenischen Griechenland ein klares Herrscherbild fehlt, führt an der exzeptionellen Stellung des mykenischen Königs auf Basis der schriftlichen Überlieferung (wa-na-ka) und des architektonischen Befundes (Megaronbau) kein Weg vorbei.
Die im minoischen Kreta fehlende bildliche Visualisierung stillender Mütter hat man auch als Ausdruck einer geringen sozialen Wertschätzung der Mutter-Kind-Beziehung gedeutet. Allerdings stellt im Gegensatz zum Fehlen menschlicher Kourotrophosdarstellungen die Säugeszene zwischen Mutter- und Jungtier einen beliebten Topos dar, der sowohl Haustiere als auch Wildtiere inkludiert (Abb.). Wenn man die zahlreichen Belege dieses Motivs nicht als Naturstudien deutet, sondern als Möglichkeit auffasst, einen wesentlichen Aspekt des menschlichen Lebens zu reflektieren, folgt daraus, dass die Darstellung der Beziehung zwischen Mutter und Säugling in der minoischen Kunst nicht grundsätzlich verweigert, sondern lediglich auf einer anderen Ebene metaphorisch dargestellt wird. Für die Annahme, dass in der minoischen Bilderwelt Tierdarstellungen als Projektionsfläche für zwischenmenschliche Intimität eingesetzt worden sein könnten, lässt sich auch der Umstand anführen, dass der Sexualakt ausschließlich zwischen Tieren abgebildet worden ist.

© Jörg Weilhartner
e-mail: joerg.weilhartner@sbg.ac.at

This article should be cited like this: J. Weilhartner, The Missing Mother. Zur fehlenden Darstellung stillender Mütter in der minoischen Bilderwelt, Forum Archaeologiae 86/III/2018 (http://farch.net).



HOME