Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 86 / III / 2018

DIE AIGIS DES ZEUS
Zum Ursprung der Thysanoi an der Kultstatue der Artemis Ephesia

Welche Darstellungsabsicht und welcher Sinngehalt liegen den Protuberanzen am Oberkörper der Artemis Ephesia und verwandter Kultbilder zugrunde? Untersucht wird diese bislang alles andere als befriedigend beantwortete Frage ausgehend von den ältesten erhaltenen Darstellungen der verlorenen Originalkultbilder, deren Konstituierung teilweise bis ins 7.Jh. v.u.Z. zurückreicht. Den Ausgangspunkt bildet die Darstellung des Zeus Labraundos auf dem Relief von Tegea (351–344 v.u.Z.). Bei den Thysanoi auf seiner Brust handelt es sich um das verbildlichte Gegenstück zur literarischen Darstellung der homer’schen Sturmwolkenaigis des Wettergottes Zeus.
Der Begriff Thysanoi findet aus zweierlei Gründen für das Phänomen Anwendung. Das Aussehen der Aigis wird an mehreren Stellen der Illias als mit thýsanoi besetzt geschildert. So nimmt etwa der Kronide „die schimmernde aigída thysanόessan und breitete über den Ida verhüllende Wolken, blitzte und donnerte mächtig und laut mit geschwungener Aigis“. Der gängigen deutschen Übersetzung des Begriffs thýsanoi mit Quasten/Troddeln/Fransen liegt aufgrund der späteren kulturgeschichtlichen Entwicklung des Aigisbegriffs viel zu sehr die Vorstellung eines realen Kleidungsstücks zugrunde. Ursprünglich handelt sich um eine Unwetterwolke, den schützenden und abschreckenden Harnisch des Wettergottes. Im Wortfeld des Begriffs thýsanoi stößt man auch auf hé thýsis, das Brausen/Stürmen, oder thyo, daherstürmen/rasen/toben/sich heftig bewegen.
Neben dem homer`schen Gebrauch gibt es noch einen weiteren literarischen Grund viel späterer Zeitstellung, der die Verwendung des Begriffs Thysanoi speziell für die Artemis Ephesia nahelegt. Beim Lexikographen Hesychios Alexandrinos, der wohl ins 5.Jh. u.Z. zu setzen ist, findet sich eine auf das Lexikon des Diogenianus aus dem 2.Jh. u.Z. zurückgehende Glosse, welche eine Anrufung der Artemis als polythýsane, „mit vielen Thysanoi“ enthält. Diese wurde schon von anderen WissenschaftlerInnen auf die Artemis Ephesia bezogen, allerdings meist im Zusammenhang mit ihrer Kleidung oder den Wollbinden. Die Bezugnahme auf die Stadtgöttin von Ephesos ist naheliegend, da ihr Kult zur Zeit des Diogenianus in Hochblüte stand.


Sowohl die Darstellungen des Zeus Labraundos als auch die einschlägigen Textstellen der Ilias sind von einer Wolkenformation inspiriert, die in der Meteorologie unter dem Fachbegriff Cumulonimbus mammatus firmiert und mit einem potentiell heftigen Unwetter einhergeht (Abb.). Die Aigis des Zeus hat apotropäische Bedeutung und ist daher ein Attribut von Schutzgottheiten, das allerdings lokal begrenzt ist auf das ionisch-karische, eventuell noch das aiolische Küstengebiet Kleinasiens. Ihr Auftreten bei der Artemis Ephesia ist am wahrscheinlichsten mit der Vermittlung über Athena zu erklären, welche von den Ioniern in Ephesos verehrt wurde und die spätestens im Zuge der synkretistischen Maßnahmen des Kroisos eine Verschmelzung mit der einheimischen Großen Göttin im Areal des neu errichteten Monumentaltempels erfuhr. Die ursprünglich höher auf der Brust ansetzende Dreiecksformation der Thysanoi an der Kultstatue der Artemis Ephesia wurde im Laufe der Jahrhunderte zugunsten anderer und neuer ikonographischer Elemente aufgelöst und wanderte mehr in den Bereich des Abdomens. Während die Kenntnis über die Schutzfunktion erhalten blieb, trat das Wissen über die ikonologischen Ursprünge des Behanges vermutlich soweit in den Hintergrund, dass nicht nur die Auflösung der ursprünglichen Anordnung und die Verschiebung der Aigis nach unten, sondern später schließlich auch eine Belegung mit anderen Bedeutungen möglich war.

© Michael Rakob
e-mail: Michael.Rakob@i-med.ac.at

This article should be cited like this: M. Rakob, Die Aigis des Zeus. Zum Ursprung der Thysanoi an der Kultstatue der Artemis Ephesia, Forum Archaeologiae 86/III/2018 (http://farch.net).



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