Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 86 / III / 2018

EIN BILD SAGT MEHR ALS 1000 WORTE? ZUR BILDLICHEN DARSTELLUNG ANTIKER ARCHITEKTUR

Rekonstruktionszeichnungen und – in jüngerer Zeit – computergenerierte Modelle sind ein unmittelbares und wichtiges Ergebnis in der Erforschung antiker Architektur. Diese Darstellungen prägen nicht nur unser „Bild“ der Monumente, sondern beeinflussen auch unser wissenschaftliches Verständnis dieser Bauten. So lenken diese Visualisierungen etwa den Blick auf bestimmte Aspekte, während andere vernachlässigt oder völlig ausgeblendet werden.
Aus diesem Grund ist es auch für im Rahmen einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit antiken Bauten notwendig, nicht nur die Rekonstruktion der Monumente selbst, sondern auch die anderen Inhalte der Darstellung bewusst zu hinterfragen. So kann beispielsweise durch die gewählte Perspektive ein Gebäude mehr oder auch weniger monumental wirken (Abb. a). Die Einbeziehung der umgebenden Bebauung kann ebenfalls ein entscheidender Faktor zu Bewertung eines Bauwerks sein. Von besonderem Interesse kann die Darstellung antiker Monumente sein, wenn es um die Rekonstruktion von Atmosphäre in der antiken Architektur oder im Stadtraum geht. Neben der Rekonstruktion von Raumgeometrien geht es dabei um Sichtbares wie Licht oder Farben, aber auch um nicht darstellbare Aspekte wie Akustik, Gerüche oder haptisches Empfinden. Es sind insbesondere manchmal ältere Rekonstruktionszeichnungen, die hier durch Bildmittel eine Brücke zur atmosphärischen Wahrnehmung schaffen. Als Beispiel dient hierfür das „Nymphäum von Milet“, publiziert von Julius Hülsen im Jahr 1919 (Abb. b). Hülsen nutzt Farbigkeit, um die unterschiedlichen Marmorsorten zu zeigen und bildet Menschen ab, um die Prunkfassade der Brunnenanlage in eine Größenrelation zu setzen. Zusätzlich rufen die kurzen Schattenwürfe – als Hinweis auf Sonnenbestrahlung – sowie das Wasser im Brunnen und in Tonkrügen Assoziationen zu Temperaturempfindungen hervor, Blumen und Nahrungsmittel evozieren Gerüche. Die Zeichnung Hülsens mag von den niederländischen Architekturdarstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts bzw. auch generell der Vedutenmalerei inspiriert sein. Grundsätzlich zeigt sich aber auch – insbesondere im Vergleich mit der nüchternen Orthogonal-Projektion des Markttores von Milet (Abb. a) eine andere Schwerpunktsetzung. Während bei der sachlichen Darstellung des Tores die Architektur im Vordergrund steht, rückt Hülsen die Beziehung des Menschen zum Element Wasser in den Mittelpunkt, das durch die Brunnenanlage in das Stadtzentrum Milets gebracht wird.


Gelenkt wird dabei nicht nur der Blick von unvoreingenommenen Betrachterinnen und Betrachtern, sondern letztlich auch der Blick derjenigen, die sich mit diesen Monumenten in wissenschaftlicher Form beschäftigen. Zum einen ergibt sich daraus die Notwendigkeit, die Botschaften dieser Bilder bewusst zu reflektieren. Zum anderen zeigt dies auch das Potential, Rekonstruktionen – im Form von Zeichnungen oder computergenerierten Modellen – für neue Forschungsfragen wie etwa Atmosphäre und Sinneserfahrungen in Bezug auf antike Architektur und Stadträume zu nutzen.

© Ursula Quatember
e-mail: uq@quatember.at

This article should be cited like this: U. Quatember, Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte? Zur bildlichen Darstellung antiker Architektur, Forum Archaeologiae 86/III/2018 (http://farch.net).



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