Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 86 / III / 2018

GAB ES LÖWEN UND AFFEN IM MINOISCHEN KRETA?
Ein ikonographisches Problem

Die Bildkunst des minoischen Kreta ist reich an lebendigen Schilderungen unterschiedlicher Tiere in der Natur sowie in Verbindung mit Menschen. Exotische Sonderfälle bilden dabei naturgemäß Löwe und Affe, die wir schwerlich als einheimische Lebewesen auf der Insel Kreta betrachten können. Während der punktuelle Import von Affen aus Ägypten ihre meist überaus realistische Wiedergabe in der spätminoischen Bildkunst gut zu erklären vermag, stellt uns der Löwe diesbezüglich vor ein ikonographisches Problem: Nicht nur die minoische Darstellungsweise von Löwen zeichnet sich oft durch eine bemerkenswerte Naturnähe aus, sondern auch die Schilderung des Raubtierverhaltens in Tierüberfallszenen kommt der Realität teils so verblüffend nahe, dass wir eine unmittelbare Kenntnis dieser exotischen Tiere für die Neupalastzeit Kretas (17.–16. Jh.) voraussetzen müssen. Bemerkenswert sind zudem das Auftreten des Löwen in Kombination mit Wildtieren wie dem Agrimi (Abb. a), seine Darstellung als erlegtes Jagdtier mit Pfeil bzw. Speer im Rücken sowie das Phänomen, dass der Löwe sogar als siegreich gegenüber dem Jäger geschildert wird, was klar im Sinne einer realen Jagd anstatt eines heroisch-herrschaftlichen Emblems zu verstehen ist. Am verblüffendsten ist jedoch die minoische Ikonographie der Löwenjagd in Bildsequenzen, die deutlich jenen der Jagd auf Wildziege, Hirsch und Keiler entsprechen: das Jagen in der Gruppe und mit Hund sowie das Zusammenbinden der Beine vor dem Abtransport der Jagdbeute (Abb. b).


All diese ikonographischen Indizien sprechen dafür, dass minoische Künstler, insbesondere während der Neupalastzeit Kretas, Löwen bei diesen Aktivitäten nicht nur aus unmittelbarer Anschauung gekannt haben müssen, sondern die Bildkunst spiegelt den Löwen geradezu als einheimisches Wildtier wider. Eine Autopsie wäre im Rahmen von minoischen Expeditionen nach Ägypten, Mesopotamien, Kleinasien oder auf das griechische Festland mit ihren Löwenpopulationen zwar gut vorstellbar, doch sind auch der Import von Löwen nach Kreta, vergleichbar mit importierten Affen, und ihre Haltung in Gehegen als Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Mag die letztgenannte Variante auch abenteuerlich erscheinen, wird sie durch zusätzliche Beobachtungen doch nahe gelegt. Dazu zählen die Verbindung des Löwen mit Tieren wie der kretischen Wildziege in minoischen Bildszenen (Abb. a) wie auch kulturgeschichtliche Parallelen, die uns den Transport von exotischen Wildtieren per Schiff und ihre Zurschaustellung sowie schließlich Schaujagd und Tierhatz in Schriftquellen und Ikonographie des Vorderen Orients klar belegen. Doch auch weitere Indizien aus der bronzezeitlichen Ägäis selbst, wie Hinweise in Linear B-Texten aus Knossos und Pylos, liefern Anhaltspunkte für die Existenz von Wildtiergehegen und lassen somit den Gedanken an Löwenjagden und Tierkämpfe in Gehegen als öffentliche Spektakel im minoischen Kreta zumindest plausibel erscheinen.

Literatur
M. Ballintijn, Lions depicted on Aegean seals – how realistic are they?, in: I. Pini – J.-C. Poursat (Hrsg.), Sceaux minoens et mycéniens. IVe symposium international, 10–12 septembre 1992, Clermont-Ferrand, CMS Beih. 5 (Berlin 1995) 23–37.
A. Shapland, The Minoan lion: presence and absence on Bronze Age Crete, World Archaeology 42, 2010, 273–289.
F. Blakolmer, Il buono, il brutto, il cattivo? Character, symbolism and hierarchy of animals and supernatural creatures in Minoan and Mycenaean iconography, Creta Antica 17, 2016 (im Druck).

© Fritz Blakolmer
e-mail: fritz.blakolmer@univie.ac.at

This article should be cited like this: F. Blakolmer, Gab es Löwen und Affen im minoischen Kreta? Ein ikonographisches Problem, Forum Archaeologiae 86/III/2018 (http://farch.net).



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