Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 78 / III / 2016

LÖWENMÄHNE, HIRSCHGEWEIH, EBERZAHN: ZUR VERWENDUNG GESCHLECHTSSPEZIFISCHER MERKMALE IN DER ÄGÄISCHEN BILDERWELT

In der darstellenden Kunst der griechischen Spätbronzezeit kommt dem Löwen, der als Bildmotiv aus dem Vorderen Orient oder Ägypten übernommen worden ist, eine besondere Bedeutung zu. Die starke Symbolkraft dieses Motivs zeigt sich unter anderem im Auftreten dieses Tieres an zentralen Punkten der mykenischen Palastburgen, wie dem Haupttor des Palastes von Mykene, das mit dem berühmten Löwenrelief geschmückt war, oder dem Thronraum des Palastes von Pylos, zu dessen Freskenausstattung ebenfalls Löwen gehörten. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl an Löwendarstellungen in der Kleinkunst, in der das Tier entweder eine heraldische Funktion einnimmt (häufig mit kultischer Symbolik) oder in Jagddarstellungen auftritt. Mitunter lassen diese Bilder eine gewisse Vertrautheit mit dem Tier in seinem natürlichen Lebensraum und Jagdverhalten erkennen, gewisse Details weisen sogar auf genaue Naturbeobachtung hin. Dass der Löwe in der Bronzezeit auf dem griechischen Festland tatsächlich heimisch war, ist durch zahlreiche archäozoologische Funde gesichert.

Einen Gegensatz zu den an lebensnahen Vorbildern orientierten Darstellungen bilden Siegelbilder, die das Motiv der Löwin mit Zitzen und säugendem Jungtier zeigen, wobei das Muttertier eine ausgeprägte Mähne aufweist (Abb.). Da in der Natur ausschließlich männliche Löwen eine Mähne tragen, haben diese Darstellungen dazu geführt, dem jeweiligen Künstler die Kenntnis vom Aussehen lebender Löwen abzusprechen. Allerdings findet sich in der ägäischen Ikonographie die Tiermutter mit geschlechtsspezifischen Merkmalen der männlichen Exemplare auch bei anderen Tiergattungen. Besonders aussagekräftig ist die Darstellung einer wiederrum durch das Motiv der Säugeszene als Muttertier ausgewiesenen Hirschkuh, die ein Geweih trägt (Abb.). Parallel zur Mähne des Löwen tragen in der realen Welt ausschließlich männliche Tiere ein Geweih. Da Rotwild in der griechischen Bronzezeit weit verbreitet war, greift die Annahme einer Unkenntnis des jeweiligen Künstlers zu kurz. Zudem lässt sich dieses Phänomen auch bei Darstellungen behörnter Haustiere nachweisen. So finden sich auf Siegelbildern stark behörnte Mutterschafe, obwohl weibliche Schafe archäozoologischen Befunden zufolge mehrheitlich stummelhörnig oder hornlos waren. Vergleichbare Säugeszenen sind für Rinder und Ziegen belegt: Obwohl sich für weibliche Tiere eine signifikant geringere Hornlänge nachweisen lässt, ist das Gehörn von Muttertieren mitunter überaus prominent dargestellt. Dem ägäischen Künstler war aber durchaus bewusst, dass männliche Tiere ein im Vergleich zu den weiblichen Tieren deutlich ausgeprägteres Gehörn aufweisen: Bei Darstellungen, die Tiere beiderlei Geschlechts in einem Bild vereinen, ist die geschlechtsspezifische Unterscheidung eindeutig.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der spätbronzezeitlichen Ikonographie Mähne, Geweih und Gehörn mitunter zur typischen Charakterisierung der Tiergattung verwendet wurden und nicht zwingend als geschlechtsspezifische Merkmale in Erscheinung treten. Der eindeutigen Kenntlichmachung einer bestimmten Tiergattung, insbesondere als Abgrenzung zu anderen Tieren, wurde hierbei gegenüber einer der Natur entsprechenden Wiedergabe geschlechtsspezifischer Merkmale der Vorzug gegeben. Mit diesen Überlegungen lässt sich die Tatsache vereinbaren, dass die Wildsau stets ohne prominent hervortretende Hauer dargestellt wird: Da diese Tiere durch das borstige Rückenhaar eindeutig als Wildschweine charakterisiert werden konnten, war eine zusätzliche Kenntlichmachung durch die in der Natur männlichen Exemplaren vorbehaltenen Hauer unnötig.

© Jörg Weilhartner
e-mail: joerg.weilhartner@oeaw.ac.at

This article should be cited like this: J. Weilhartner, Löwenmähne, Hirschgeweih, Eberzahn: Zur Verwendung geschlechtsspezifischer Merkmale in der ägäischen Bilderwelt, Forum Archaeologiae 78/III/2016 (http://farch.net).



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