Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 70 / III / 2014

EINE ‚SPEZIELLE PROZESSION’ IN MINOISCHEN SIEGELBILDERN: EVIDENZ FÜR EIN HERRSCHAFTSRITUAL IM NEOPALATIALEN KRETA?

Aus den zahlreichen Prozessionsdarstellungen der minoisch-mykenischen Siegelglyptik sticht eine Gruppe von ca. 20 Bildmotiven hervor, die größtenteils von neupalastzeitlichen Siegelabdrücken aus Agia Triada und Kato Zakros bekannt sind. Diese vermitteln uns eine gewisse Vorstellung eines Prozessionsfrieses, der sich in vielen Aspekten vom konventionellen Darstellungsschema unterscheidet und es uns erlaubt, von einer ‚speziellen Prozession’ zu sprechen. Im Gegensatz zu anderen Darstellungen dieses Themas zeichnet sich die in diesen Siegelmotiven geschilderte Prozession durch Teilnehmer männlichen und weiblichen Geschlechts, durch von ihnen getragene besondere rituelle Gewänder sowie spezielle Kopfbedeckungen und durch den Transport von Ritualobjekten wie der Doppelaxt, eines dekorierten Mantels mit Fransen und stangenartiger Geräte aus (Abb. a). Anstatt einer stereotypen Reihung der Figuren weist diese ‚spezielle Prozession’ narrative Einzelszenen auf wie miteinander interagierende und kommunizierende schreitende Figuren in lebendigeren Posen und eine soziale oder funktionale Hierarchisierung der Teilnehmer (Abb. b). Zudem fand diese Prozession allem Anschein nach nicht im Freien, sondern in einem Innenraum statt.

Ikonographische Entsprechungen zum Bildtypus dieser ‚speziellen Prozession’ finden wir in weiteren kretisch-minoischen Siegelbildern, in großformatigen Wandmalereien wie dem Fries aus dem ‚Corridor of Procession’ im Palast von Knossos sowie Wandfresken in Akrotiri auf Thera. Besonders deutliche Parallelen in Gewandung und Ausstattung der Prozessionsteilnehmer und in den narrativen Sequenzen weist jedoch die sog. ‚Schnittervase’ aus Agia Triada auf. Die SM I-zeitlichen Siegelbilder dieser ‚speziellen Prozession’ lassen sich somit zweifelsfrei als Ausschnitte aus einem umfangreichen Bildfries definieren, und ihr Vorbild darf im monumentalen Stuckrelief angenommen werden.
Schwieriger gestaltet sich unsere Rekonstruktion von Bedeutung und Funktion dieser ‚speziellen Prozession’, doch liefert die Ikonographie immerhin eine Reihe von aufschlussreichen Hinweisen. Der exklusive Charakter der TeilnehmerInnen, die transportierten rituellen Requisiten und weitere Details dieser Prozessionsdarstellungen legen zumindest die Annahme nahe, daß die Überreichung eines speziellen Fransenmantels durch Palastfunktionäre männlichen bzw. weiblichen Geschlechts mit Priesterfunktion an einen Mann fortgeschrittenen Alters und in eminent hoher Position (Abb. b) in zeremoniellem Rahmen und im Inneren eines Palastes einen offiziellen Staatsakt der Amtseinführung bildete.

Bibliographische Hinweise
M. Wedde, On the road to the godhead: Aegean Bronze Age glyptic procession scenes, in: M. Wedde (Hrsg.), Celebrations. Sanctuaries and the Vestiges of Cult Activity. Selected Papers and Discussions from the Tenth Anniversary Symposion of the Norwegian Institute at Athens, 12–16 May 1999, Papers from the Norwegian Institute at Athens 6 (Bergen 2004) 151–186
F. Blakolmer, Processions in Aegean iconography II: Who are the participants?, in: L. A. Hitchcock – R. Laffineur – J. Crowley (Hrsg.), DAIS. The Aegean Feast, Proceedings of the 12th International Aegean Conference, University of Melbourne, Centre for Classics and Archaeology, 25–29 March 2008, Aegaeum 29 (Liège – Austin 2008) 257–268
F. Blakolmer, Processions in Aegean iconography IV: A “special procession” in seal images from Minoan Crete, in: A.-L. Schallin – H. Whittaker (Hrsg.), Panel at the 18th Annual Meeting of the European Association of Archaeologists, August 29 – September 1, 2012, Helsinki (im Druck)


© Fritz Blakolmer
e-mail: fritz.blakolmer@univie.ac.at

This article should be cited like this: F. Blakolmer, Eine ‚spezielle Prozession’ in minoischen Siegelbildern: Evidenz für ein Herrschaftsritual im neopalatialen Kreta?, Forum Archaeologiae 70/III/2014 (http://farch.net).



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