Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 58 / III / 2011

DAS NEUE GESAMTMODELL VON CARNUNTUM

Das für die Niederösterreichische Landesausstellung 2011 konzipierte Gesamtmodell geht wieder auf die bewährte Darstellungsform eines dreidimensionalen haptischen Modells zurück, doch haben sich verschiedene Parameter grundlegend geändert. Als Endprodukt wurde ein im Maßstab 1:300 angelegtes Außenmodell ins Auge gefasst. Diesem Realmodell sollte eine virtuelle Rekonstruktion des Geländes und der Gebäude vorausgehen, dem wiederum die aktuellen Grabungs- und Prospektionsergebnisse zugrunde gelegt wurden.

Die offene, nahezu unverbaute und überwiegend agrarisch genutzte Landschaft um Petronell und Bad Deutsch-Altenburg bietet hervorragende Möglichkeiten für den Einsatz archäologischer Prospektionsmethoden, mit denen man große Siedlungsflächen untersuchen und die dort unter der Oberfläche liegenden Strukturen in ihrer Lage und Ausdehnung dokumentieren kann, ohne dass sie ausgegraben werden müssen (Abb. 1). Mithilfe der seit den 1970er-Jahren in Carnuntum intensivierten Luftbildarchäologie, die Schatten-, Boden- und insbesondere Bewuchsmerkmale aus der Luft fotografisch erfasst, ließen sich bisher Strukturen auf einer Fläche von rund elf Quadratkilometern dokumentieren. Unsere Kenntnisse über die Struktur und Ausdehnung der Carnuntiner canabae fußen mittlerweile größtenteils auf luftbildarchäologischen Aufschlüssen, die eine ideale Ergänzung zu den Grabungsergebnissen darstellen. Auch die Bebauung außerhalb der Zivilstadt ist auf Luftbildern gut erkennbar, wobei man insbesondere westlich und südlich der Stadtmauer vorstädtische Siedlungsviertel lokalisieren kann, die – wie auf der sogenannten Gstettenbreite im äußersten Westen von Carnuntum – die Form eines Straßendorfes aufwiesen. Fotogrammetrisch entzerrt und im Landeskoordinatensystem verortet, lassen sich diese Aufnahmen am besten in einem Geografischen Informationssystem (GIS) interpretieren und mit anderen Informationen zusammenführen.

Stehen Luftaufnahmen vom gesamten Siedlungsraum zur Verfügung, so liegen Ergebnisse geophysikalischer Messungen in erster Linie aus der Westhälfte von Carnuntum vor. Seit 1990 werden in der Zivilstadt sowie westlich und südlich davon auf einer Fläche von mittlerweile mehr als 115 Hektar geophysikalische Prospektionen durchgeführt; dabei kamen unterschiedliche Messmethoden zum Einsatz (Geomagnetik, Geoelektrik, Georadar).
Besonders gute Ergebnisse erbrachten die geophysikalischen Messungen im Zentrum der Zivilstadt; dort lokalisierte man das Forum, das sich gegenüber der sogenannten „Palastruine“ befand, eingebettet in ein Wohnviertel, dessen Straßennetz nur ansatzweise eine rechtwinkelige Grundstruktur widerspiegelt.
Da Luftbildarchäologie und geophysikalische Prospektion keine Anhaltspunkte für die zeitliche Einordnung der entdeckten Befunde bieten, sind für die Rekonstruktion der Bau- und Siedlungsgeschichte nach wie vor archäologische Ausgrabungen notwendig. Systematische Feldbegehungen, bei denen das an der Oberfläche befindliche Fundmaterial großräumig aufgesammelt und verzeichnet wird, kamen bisher in Carnuntum viel zu selten zum Einsatz. Nur südwestlich der Zivilstadt und vor allem an der südlichen und südöstlichen Peripherie der canabae wurden bisher Oberflächensurveys durchgeführt, um die Ausdehnung der Siedlungsfläche nachzuvollziehen und auch im Vorfeld von Carnuntum die Lokalisierung altbekannter und neuer Fundstellen sowie deren grobe chronologische Einordnung zu ermöglichen.
Bei der Zusammenführung der Grabungs- und Prospektionsergebnisse der letzten 150 Jahre sieht sich die Wissenschaft mittlerweile vor dem großen Problem, eine Menge an Informationen zu Carnuntum und das daraus gewonnene Wissen über die römische Vergangenheit von Petronell und Bad Deutsch-Altenburg adäquat aufzubereiten und im Hinblick auf gewisse Frage- und Problemstellungen abrufbar zu machen. Im Jahre 2006 führte deshalb die Firma ArcheoProspections® (ZAMG) eine erste Sichtung sämtlicher Daten durch, um einen Überblick über die mittlerweile in sehr großem Umfang vorhandenen digitalen Informationen zu Carnuntum zu erhalten. Mit finanzieller Unterstützung des Landes Niederösterreich ist seit 2009 ein Team von Archäologen am Institut für Kulturgeschichte der Antike (ÖAW) damit beschäftigt, ein GIS-taugliches Ordnungsschema zu erarbeiten, das sämtliche archäologische Tätigkeiten in Carnuntum erfassen, klassifizieren und geografisch verorten soll (Abb. 2). Dieses im Aufbau befindliche „Archäologische Informationssystem“ bildete auch die technische Grundlage für die wissenschaftliche Aufbereitung der Siedlungslandschaft.

Neben den archäologischen Befunden – also den Gebäuden, den Straßen und anderen Einrichtungen, die im Modell berücksichtigt werden sollten – spielt natürlich auch die Landschaft, in der die Siedlung angelegt wurde, eine herausragende Rolle. Ungeachtet der zahlreichen Informationen, die wir über die Bausubstanz haben, fehlen verlässliche Hinweise zur naturräumlichen Umgebung des römischen Carnuntum. Die Erforschung der Vegetation und der historischen Landnutzung steckt noch in den Anfängen, selbst das Geländerelief zur Römerzeit ist nur in Ausnahmefällen verfügbar. Zumeist liegen punktuell Daten vor, die für eine flächendeckende Rekonstruktion des antiken Geländes nicht ausreichen. Für das Modell wurde deshalb auf das aktuelle Höhenrelief zurückgegriffen, das von der Abteilung für Hydrologie und Geoinformation des Landes Niederösterreich in Form von Airborne-Laserscanning-Daten zur Verfügung gestellt wurde. Dieses digitale Höhenmodell gibt die heutige Geländemorphologie wieder und musste somit in verschiedenen Bereichen modifiziert werden. Zahlreiche Strukturen wie rezente Straßen- und Eisenbahntrassen waren aus dem Geländerelief zu entfernen, andere wurden hinzugefügt: beispielsweise die Donau in ihrem rekonstruierten historischen Verlauf, der anhand von Karten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachmodelliert wurde, oder die Ergänzung des mittlerweile beinahe gänzlich abgetragenen Pfaffenbergs am Ostrand von Carnuntum, auf dem sich in der Antike ein topografisch dominant gelegenes Jupiter-Heiligtum befand.

In jeder Idealrekonstruktion eines historischen Zustandes, ob diese nun in Form eines zweidimensionalen Bildes erfolgt oder als dreidimensionales Modell, hat man sich darauf zu einigen, welcher Zeitabschnitt dargestellt werden soll. Beim neuen Gesamtmodell ist die Wahl auf die Severerzeit gefallen. Nicht nur in Carnuntum waren die Jahrzehnte um 200 n.Chr. eine Blütezeit. Septimius Severus, der Statthalter der Provinz Oberpannonien, wurde in Carnuntum zum Kaiser ausgerufen. Während seiner Regenschaft bekam Carnuntum den Rang einer Kolonie. Die Siedlung erreichte in den Jahrzehnten bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts n.Chr. auch die größte Ausdehnung (Abb. 3). Ihre Siedlungskerne – also das Legionslager, die Lagervorstadt (canabae), das Auxiliarkastell und die Zivilstadt – waren in diesen Jahrzehnten voll entwickelt. So selbstverständlich die Wahl dieses Zeitabschnitts auch sein mag, bedeutet sie im konkreten Fall aber auch, dass man zum Beispiel auf die Darstellung des Heidentors, eines spätantiken Triumphalbaus, dessen Ruine heute das Wahrzeichen von Carnuntum darstellt, verzichten muss. Im Modell wird die topografische Lage des Monuments zwar angegeben, das Heidentor als Bauwerk aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts dient aber nur als Orientierungspunkt und wird nicht wie die anderen antiken Gebäude als bereits bestehendes Objekt im Modell nachgebildet. Im Aufgehenden – so bezeichnet man in der Archäologie die dritte Dimension – sind sämtliche Gebäude des Modells ergänzt; ihre Lage ist in den meisten Fällen gesichert. Die Gestaltung des Donauuferbereichs stellte diesbezüglich allerdings ein besonderes Problem dar (Abb. 4): Wir können nämlich davon ausgehen, dass große Bereiche des Donauhochufers abgerutscht sind und sämtliche römischen Bauwerke mit in die Tiefe gerissen haben. Große Teile der am Fluss gelegenen Siedlungsräume dürften der Erosion zum Opfer gefallen sein, darunter wahrscheinlich auch die Schiffsanlegestellen respektive die Hafenanlagen, die man vor der Zivilstadt und dem Statthalterpalast vermuten kann, und zwar im Bereich der nordöstlichen canabae beziehungsweise des Legionslagers: Für diese Lokalisierung spricht ein bemerkenswertes Speichergebäude, das bereits 1899 in Donaunähe ergraben wurde.

Großbauten und kompakte Anlagen wie das knapp 18 Hektar große Legionslager und das mit 3,65 Hektar deutlich kleinere Reiterlager am Ostrand von Petronell bilden naturgemäß einen besonderen Blickfang. Die beiden Letzteren zählen zu den am vollständigsten untersuchten Siedlungselementen in Carnuntum und lassen sich deshalb sehr verlässlich rekonstruieren.
Im Gegensatz zur älteren Darstellung im Modell von 1992 (Museum Carnuntinum) ist die Zivilstadt in Petronell in ihren Ausmaßen mittlerweile gut zu fassen. An der Ost-, Süd- und Westseite lässt sich der Verlauf der Stadtmauer, die die Siedlung umgab, durch Grabungsergebnisse und archäologische Prospektion sehr genau nachvollziehen. Wo die zur Donau hin gelegene Nordfront der Stadtmauer verlief, ist hingegen vollkommen ungeklärt. Während man bisher den Verlauf der Stadtmauer in einer Linie mit der Nordflucht des Petroneller Schlosses vermutete, wurde im neuen Gesamtmodell die Nordbegrenzung der Siedlung weiter nach Norden verschoben (Abb. 5). Demnach hätte der Mauerring damals eine Fläche von rund 66,7 Hektar umschlossen. Ausschlaggebend dafür sind nicht neue wissenschaftliche Ergebnisse über das Aussehen der Donauuferbebauung, sondern auch die Überlegung, dass der decumanus als Hauptstraße die Zivilstadt in etwa gleichmäßig geteilt und sich somit das mittlerweile lokalisierte Forum in der Mitte der Siedlung befunden habe. Obwohl hier keine archäologischen Befunde als Rekonstruktionsgrundlage verfügbar waren, ist der im Modell optisch stark hervortretende Donauprospekt somit vollständig ergänzt. Weder Zivilstadt noch Militärstadt sind gleichmäßig dicht bebaut. Vollständig ergrabene Wohngebäude bilden die Ausnahme, beispielsweise jene im Bereich des Spaziergartens im Archäologischen Park, wo man Teile mehrerer Wohnquartiere aus dem Südostteil der Carnuntiner Zivilstadt freigelegt hat. Die Teil- und Vollrekonstruktionen, die hier in natürlicher Größe während der letzten Jahre errichtet wurden, repräsentieren allerdings nicht die severerzeitlichen Bauperioden, sondern die im Befund weitaus besser erhaltenen späteren Bauzustände. Die Intention bei der Wiedergabe der Wohnbebauung bestand daher darin, nicht einzelne Gebäude möglichst detailgetreu oder individuell darzustellen, sondern die unterschiedlichen Bebauungsstrukturen kenntlich zu machen. In der Zivilstadt sollte die Aufsiedlung des Innenareals veranschaulicht werden, die durch eine blockartige Verbauung, untergliedert in eine streifenförmige Parzellierung, gekennzeichnet ist. Luftbilder und geophysikalische Messungen zeigen, dass es in der Zivilstadt keinen durchgehenden rechtwinkeligen Grundraster gab, der vom – mit der Limesstraße identischen – decumanus maximus ausgegangen wäre. Zurzeit lässt sich noch nicht abschätzen, wie dicht der Bereich innerhalb der Stadtmauern tatsächlich aufgesiedelt war und in welchem Umfang Brachflächen existierten. Dank der Prospektionsergebnisse ist das Bild der Vorstädte westlich und südlich des Mauerrings ein völlig neues.

In den canabae legionis ging es vor allem darum zu zeigen, dass von den Siedlungsrändern Richtung Legionslager mit einer zunehmenden Verdichtung der Bebauung zu rechnen ist, die auch durch einen Wechsel in den Gebäudeformen gekennzeichnet war. In den Außenbereichen begegnete man in erster Linie sogenannten Streifenhäusern: langrechteckigen, mit der Schmalseite zur Straße hin orientierten Wohn- und Gewerbebauten, die eine durchgehende Dachkonstruktion aufwiesen. Rund um das Legionslager kann man komplexere, „urbanere“ Hausformen voraussetzen, die denen in der Zivilstadt ähnlich gewesen sind.

Die Herstellung des Modells
Das neue Gesamtmodell deckt einen Geländeausschnitt ab, der in der Natur eine Länge von rund 6.900 Metern und eine Breite von 4.500 Metern umfasst. Umgesetzt im Maßstab 1:300 sollte das Modell demnach eine Länge von 23 Metern und eine Breite von 15 Metern haben. Die unregelmäßige, etwa in der Mitte abgewinkelte Form des Modells ist an die Siedlungslandschaft angepasst. Von den in west-östlicher Richtung orientierten Siedlungsbereichen der Zivilstadt dehnt sich die Stadt nach Nordosten bis zum Pfaffenberg aus, der für einen im Süden stehenden Betrachter den äußeren rechten Rand des Modells bildet.
Für den Modellbau war es notwendig, nach der Festlegung der Modellausmaße kachelförmige Bausteine zu definieren, die aus arbeitstechnischen Gründen nur eine gewisse Maximalgröße umfassen durften. Bezüglich Größe und Form dieser Module mussten einerseits die Siedlungsstrukturen von Carnuntum berücksichtigt werden, andererseits waren bei deren Konzeption auch witterungsbedingte Dehnungsvorgänge einzuplanen. Die virtuell erstellten 3-D-Modelle wurden so aufbereitet, dass sie von einer Stereolithografie-Maschine (STL) verarbeitet werden konnten. Diese STL-Maschine baut mittels Lasertechnologie einen lichtaushärtenden Kunststoff in extrem dünnen Schichten auf. Innerhalb weniger Stunden entsteht mithilfe dieses „3-D-Druckers“ aus einem Datensatz ein reales Objekt. Die Oberfläche der einzelnen Werkstücke wird im Anschluss glasperlengestrahlt sowie mit Farb- und Schutzlacken versehen.
Da die Wiedergabe der Wohnbebauung mithilfe von schematisierten Gebäude- bzw. Bebauungstypen erfolgte, konnte für identische Objekte, die im Modell wiederholt auftreten, auch das Vakuumgussverfahren zum Einsatz kommen, das eine kostengünstige Vervielfältigung erlaubt. Das Gelände wurde anhand des digitalen Geländemodells in Schicht- und Konturbauweise erstellt. Da zur antiken Landnutzung und Vegetation kaum Informationen zur Verfügung stehen, erfolgte deren Wiedergabe im Modell in sehr reduzierter Form. Die Wasserflächen sind aus speziellem Struktur-Acryl gefertigt, der farblich gestaltet wurde.
Das Gesamtmodell ist als Außenanlage ein Teil des neuen Besucherzentrums im Archäologischen Park in Petronell. Dieses Miniatur-Carnuntum ist ein wichtiger Anziehungspunkt für jeden Besucher, an dem er einen ersten Überblick über die vergangene Größe der römischen Donaumetropole erhält. Mit dem neuen Besucherzentrum und dem Gesamtmodell wird allen Besuchern, sowohl dem interessierte Laien als auch dem Fachkundigen, ein erster Einstieg in die antike Vergangenheit der Region geboten, die die aktuellen Ergebnisse der archäologischen Forschungen in einer zeitgemäßen, attraktiven Form zusammenfasst. Die unter den Wiesen und Äckern verborgenen Ruinen der römischen Stadt Carnuntum werden so in einzigartiger Weise einem breiten Publikum wieder vor Augen geführt.
Dieses ambitionierte Unternehmen war nur durch die Zusammenarbeit von mehreren Projektpartnern möglich:
· Michael Doneus: Luftbildarchiv, Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Wien; Ludwig Boltzmann Institut für archäologische Prospektion und virtuelle Archäologie
· Christian Gugl: Institut für Kulturgeschichte der Antike, Österreichische Akademie der Wissenschaften
· Franz Humer: Museum Carnuntinum
· Michael Klein, Günther Weinlinger, Ferenc Zámolyi, Felix Flakus: 7reasons Medien GmbH
· Volker Paschke: Projekt::Modell GmbH
· Reinhard Gallister: Schutzbau

© Christian Gugl, Michael Doneus, Franz Humer, Michael Klein, Volker Paschke, Günther Weinlinger
e-mail: christian.gugl@oeaw.ac.at


This article should be cited like this: Ch. Gugl et al., Das neue Gesamtmodell von Carnuntum, Forum Archaeologiae 58/III/2011 (http://farch.net).



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