Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 58 / III / 2011

EROBERN - ENTDECKEN - ERLEBEN
Zur Philosophie der Niederösterreichischen Landesausstellung 2011

„Erobern“ und „entdecken“ – das hängt häufig zusammen: „entdecken, um zu erobern“, oder „erobern, und (danach) erst entdecken“, oder „entdecken zur nutzbringenden Verwendung“. Man kann demnach ein Land, ein Volk, die Natur, einen Kontinent, die Welt der kleinsten Dinge (Atomwissenschaft und Nanotechnologie) ebenso wie die Weite des Universums „entdecken“, jedoch auch wissenschaftlich, technisch-praktisch und kommerziell „erobern“. Was das Universum betrifft, gibt’s bis auf Weiteres allerdings noch Grenzen …
Beim Erobern sind die Rollen klar verteilt: Die Eroberer sind besser bewaffnet und organisiert als jene, die zum Gegenstand der Eroberung werden. Das militärische Erobern stellte immer einen gewaltsamen und gewalttätigen Vorgang dar, die Unterlegenen wurden entweder den Göttern der Sieger geopfert oder versklavt. In günstigeren Fällen konnten sie als Bebauer des Bodens überleben, als rechtlose Heloten (wie man die öffentlichen Sklaven in Sparta nannte), aber immerhin. Die Eroberer suchten bessere Böden, Weidegründe, Gold, Macht. Sie raubten Land und Frauen, Schätze und Bodenschätze, Herden und Sklaven. Dennoch – oder gerade deswegen? – geht von Eroberern eine anhaltende Faszination aus: von den die damals bekannte Welt erobernden Römern über die Germanen der Völkerwanderung, die Hunnen, Awaren und Magyaren, die Franken Karls des Großen, die Kreuzritter, die spanischen Konquistadoren in Lateinamerika, die Franzosen und Engländer in Nordamerika und Indien bis zu Napoleon und Adolf Hitler. Ist es die Faszination der siegreichen Gewalt, des Erfolges, des Triumphes, des wirklichen oder nur scheinbaren Feldherrengenies, die bis in unsere Tage weiterwirkt, auch wenn die Eroberungen oft nur Eintagsfliegen waren? Oder ist es die Faszination der Gewalttat, des Bösen, das ja für uns häufig erheblich spannender ist als das stets etwas langweilige Gute? Immerhin haben wir die Genugtuung, dass nicht wenige Eroberungen nur von sehr kurzer Dauer waren und dass sich die Unterworfenen – auch – in Revolutionen und Aufständen wieder befreien konnten.

Eine Ausstellung kann dazu bewegen, Fragen zu stellen – Fragen an uns, Fragen an die Geschichte. Das sind keine verschiedenen Ebenen, wie wir vielleicht glauben. „Geschichte“ – das klingt zwar nach dem Vergangenen, das uns nichts mehr angeht, das in der Schule im besten Falle ein netter Unterrichtsgegenstand war. Aber: Zum Unterschied von allen anderen Lebewesen hat der Mensch ein Gedächtnis; dieses Gedächtnis schafft Erinnerung, und diese Erinnerung wird zur „Geschichte“. Die Geschichte wirkt als persönliche oder erlernte, mit vielen anderen Menschen – scheinbar – geteilte Erinnerung ständig in unser Alltagsbewusstsein herein, formt unsere (Vor-)Urteile – etwa über „die Türken“, „die Russen“, „die Amis“ etc. – und unser Denken. Es ist daher auch nicht möglich, der Geschichte zu entkommen, sie aus unserer Gegenwart auszuklammern – es bedarf, im Gegenteil, einer ständigen bewussten Beschäftigung mit ihr, einer ständigen kritischen Kontrolle dessen, was da aus dem meist recht bruchstückhaften Wissen über die Vergangenheit in unser Alltagsbewusstsein hereindrängt und hereinwirkt. Das ist nur zum Teil die Aufgabe der beruflichen Spezialisten, der Historiker aller Spielarten, es betrifft jeden von uns. Geschichtslose Gesellschaften gibt es daher nicht (auch wenn uns manche Politiker solches glauben machen wollen).
Man kann freilich die Geschichte auch ganz bewusst dazu benützen, die Gegenwart zu beeinflussen. Immer schon beliebt war die Erzählung von den tapferen erobernden Vorfahren, die ein Land unterwarfen und damit den Nachkommen für immer ermöglicht haben, glücklich dort zu leben. Und in der Tat: Nirgends auf der Welt leben Menschen, deren Vorfahren seit Adam und Eva an eben diesem Platz wohnen, praktisch überall ist die spätere oder gar die heutige Verteilung von Völkern und Staaten das komplexe Ergebnis zahlreicher Eroberungen, Unterwerfungen, Überschichtungen, Befreiungen, Vertreibungen, Ansiedlungen und Kolonisationen. Ist das nicht Argument genug, sich mit Eroberungen zu beschäftigen?
Eine Landesausstellung kann informieren, mehr nicht. Sie moralisiert nicht. Die Wertung soll in den Köpfen der Besucher entstehen, möglichst nicht vorgegeben werden. Die Ausstellung kann aber auf Bedingungen verweisen, die es ermöglichten, dass Eroberungen von Dauer waren … oder eben nicht. Und: Sie findet an bestimmten Orten statt, mit Bezügen zu den Themen. Diese Örtlichkeiten hängen mit der von uns behandelten Thematik nicht nur über jenen Allgemeinplatz zusammen, dass es überall auf der Welt Eroberungen und Entdeckungen gab. Sie zeigen vielmehr, dass die Landschaft, in der diese Ausstellung „spielt“, im Hinblick auf unser Thema eine gewisse Eigenheit hat. Sie liegt nämlich in einer Grenz-Region, einer Region, die mehr als einmal grenzbildend gewirkt hat, und das sehr nachhaltig. Immerhin kamen die Römer dauerhaft nur bis an die Donau, Vorstöße nach Norden dienten eher der Klärung der Verhältnisse im eigenen Vorfeld oder waren Expeditionen, um die Barbaren die Macht Roms spüren zu lassen. Noch Karl der Große beachtete diese alte Grenze des Imperium Romanum nach der Zerstörung des Awarenreiches. Awaren ebenso wie Magyaren, beides Reitervölker, kamen auf ihren Eroberungen nach Westen dauerhaft nur bis zum Wienerwald – darüber hinaus gab es Plünderungszüge, aber keine Eroberung. Ihre ständigen Wohnsitze mussten ihrer Lebensform als berittene Hirtenkrieger entsprechen. Aber auch der Gegenschlag des „Westens“, die ostfränkisch-deutsche, nach den tragenden Personen bayerische Expansion nach Osten, ging nur bis an die March-Leitha-Grenze. Hainburg wurde zur östlichsten Burg – und Stadt – des aus jener Expansion heraus entstandenen Herzogtums Österreich. Die Grenze, die sich hier im 11. Jahrhundert herausbildete, existiert an der March heute noch, nur die Leithagrenze wurde 1921, als das Burgenland an Österreich fiel, nach Osten verschoben. Offenbar entsprach diese Grenze den militärischen Möglichkeiten wie auch den dominanten Lebensformen beider Seiten – hie (freilich sehr verkürzt) Weidewirtschaft, da Ackerbau.
Erobertes Land bleibt den Eroberern nur, wenn es nachhaltig gesichert wird. Das war im hohen Mittelalter nur durch Burgen möglich. Es ist kein Zufall, dass dem starken ungarischen Pressburg (Pozsony, Bratislava) das starke deutsche (österreichische) Hainburg entsprach. Unter dem Schutz der Burgen entwickelte sich bäuerliche Siedlung, deren agrarische Produktion als Feudalrente den hohen und niederen ritterlichen Adel ernährte, deren Überschüsse aber auch die Märkte wachsender Städte – so Hainburg schon im 13. Jahrhundert – versorgten. Befestigung und Kolonisation erwiesen sich immer wieder als günstigste Methoden der Absicherung von Eroberungen. Das war auch nach den Türkenkriegen im nunmehr habsburgischen Ungarn so … und noch im „Wilden Westen“ der USA im 19. Jahrhundert.
Das Erobern war vielfach mit dem Entdecken verbunden – mit dem Entdecken von unbekannten Gegenden, Tieren und Pflanzen, Menschen, Sprachen und Gebräuchen. Wieder waren die Entdecker besser ausgebildet und mit besseren Instrumenten „bewaffnet“ als die Entdeckten, gleich ob Mensch oder Tier. Mit den Entdeckungen änderte sich die Lebensweise nicht nur der Eroberer, sondern auch der Zu-Hause-Gebliebenen. Man denke nur an Kakao, Kartoffeln, Mais und Tabak, die aus Amerika nach Europa kamen, oder an Tee und Kaffee aus Asien. Binnen zweier Jahrhunderte schufen diese vorher unbekannten Dinge völlig neue Konsumgewohnheiten – und neue Einrichtungen wie Tee- oder Kaffeehäuser oder Tabakfabriken (eine davon in Hainburg).
Systematisches Entdecken wird zum Erforschen. Den Eroberern folgten Missionare und Wissenschaftler. Missionare sollten die Botschaft des christlichen Evangeliums in die Welt tragen – eine zur Realität der Eroberungen oft in deutlichem Gegensatz stehende Botschaft der Liebe und des Verzeihens. Um ihre Botschaft wirkungsvoll zu verkünden, mussten sie die Sprache jener Menschen lernen, denen sie predigten. Und um erfolgreich an Bestehendes anknüpfen zu können, hatten sie auch deren Lebensweise und Gebräuche, ihre numinosen oder religiösen Vorstellungen zu kennen. Neben und nach den Missionaren kamen die (beruflichen) Wissenschaftler. Sie suchten nicht so sehr das Gold, sondern sie forschten in systematischer Neugier nach dem Aussehen der Erde, erkundeten Küsten und Binnengewässer, verzeichneten und kartografierten, sammelten und systematisierten. Seit James Cook sind die Küsten außerhalb von Arktis und Antarktis bekannt und weitgehend auch vermessen. Doch die Vermessung erhält immer neue Dimensionen: Sobald der schwedische Naturforscher Carl von Linné sein System, die gesamte (Tier- und) Pflanzenwelt systematisch zu erforschen und zu benennen, veröffentlicht hatte, konnten alle anderen Forscher daran anknüpfen. Es bestand jetzt nur mehr die gigantische Aufgabe, dieses Linné’sche Koordinatensystem über die Flora und Fauna zu legen – und die gesamte belebte Welt war in ein übersichtliches System gebracht, ein System, das die Naturforscher heute noch verwenden.
An dieser Aufgabe beteiligten sich auch Forscher aus Österreich. Nicht nur einzelne Personen forschten, es entstand ein internationales Netz von wissenschaftlichen Akademien und Vereinen, das diese Forschungen trug und unterstützte. Auch die bekannte und sehr ertragreiche Weltumsegelung durch die österreichische Fregatte „Novara“ (1856–1859) wurde von solchen Organisationen – etwa der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften – mitgetragen. Heute ist systematisches Entdecken als organisierte Forschung nur mehr in großen Einheiten möglich, wenn zahlreiche Forschungspersönlichkeiten an komplexen Vorhaben arbeiten. Die letzten Abschnitte der Ausstellung sollen das bewusst machen – die „neue Sicht der Dinge“ eröffnet Einblicke in die rasante und akzelerierende Entwicklung im Bereich der Erkenntnisse über die kleinsten und größten Räume, und über das, was hinter jener Kommunikationsrevolution steht, die wir alle täglich erleben.
Gibt es so etwas wie einen „usus Delphini“, einen Nutzen, den die Besucher mitnehmen können? Nochmals: Eine Ausstellung ist keine moralische Anstalt. Aber eine Einsicht drängt sich auf: Forschendes Entdecken brachte der Menschheit insgesamt mehr Segen als die erfolgreichsten Eroberungszüge.
Und das „Erleben“ im Titel der Ausstellung? Das wünschen wir allen, die sie besuchen.

© Ernst Bruckmüller
e-mail: ernst.bruckmueller@univie.ac.at


This article should be cited like this: E. Bruckmüller, Erobern – Entdecken – Erleben. Zur Philosophie der Niederösterreichischen Landesausstellung 2011, Forum Archaeologiae 58/III/2011 (http://farch.net).



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