Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 54 / III / 2010

DIE GRAPHISCHE GESTALTUNG DER TIERLOGORAMME AUF DEN LINEAR B-TAFELN

Zu den wesentlichen Aufgaben der mykenischen Palastverwaltung zählte die schriftliche Dokumentation des umfangreichen palatialen Tierbestandes. Zu diesem Zweck stand den Schreibern eine Reihe von Logogramme resp. Ideogramme genannten, sematographischen Zeichen zur Verfügung, mit denen das betreffende Tier in den von syllabischen Wörtern dominierten Texten deutlich hervorgehoben werden konnte. Diese symbolhaften Darstellungen unterstreichen durch ihr tabellenartiges Auftreten nicht nur die registrierende Funktion der Tafeln, sondern erleichtern auch die inhaltliche Einordnung des jeweiligen Textes.
Den Logogrammen für Pferd (EQU) und Hirsch (CERV) liegt eine sehr bildhafte Gestaltungsweise zugrunde, die sich unmittelbar von Darstellungen auf Fresken und Siegeln herleiten lässt. Im Gegensatz dazu bilden die schematisierten Logogramme für die Haustiere Schaf (OVIS), Ziege (CAP), Rind (BOS) und Schwein (SUS) eine separate Gruppe. Diese vier Zeichen treten nicht nur als selbstständige Logogramme auf, sondern fungieren auch als phonetische Silbenzeichen im Wortverband. Darüber hinaus finden sich alle vier Zeichen auch in Texten der Linear A-Schrift, wobei sie ebenfalls sowohl in Funktion eines Logogramms als auch als Zeichen mit syllabischem Wert auftreten.
Vergleichbar mit den Logogrammen für Pferd und Hirsch gibt auch das Logogramm für Schwein ohne Zweifel einen Tierkopf wieder, eine exakte Bestimmung ließe sich unter ausschließlicher Berücksichtigung der visuellen Repräsentation jedoch nicht vornehmen. Ein noch stärkerer Schematisierungsgrad ist bei der Gestaltung der Logogramme für Schaf, Ziege und Rind auszumachen. Auf einen vertikalen Strich ist ein jeweils unterschiedlicher, oberer Teil gesetzt, der auf den ersten Blick wenig bildhafte Elemente aufweist. Ein Vergleich mit Tierdarstellungen aus der ägäischen Bilderwelt legt jedoch nahe, dass dieser obere Teil die jeweils charakteristische Form des Hornes mit einschließt (Abb.), das als einfach wiederzugebendes Unterscheidungsmerkmal besonders geeignet erscheint.
Einen weiteren interessanten Aspekt bildet die graphische Gestaltung der Geschlechterdifferenzierung, die in den Schriftsystemen Linear A und Linear B nahezu identisch ist und aus einem zusätzlichen vertikalen Strich für weibliche Tiere bzw. zwei kurzen horizontalen Strichen für männliche Tiere besteht. Die korrekte geschlechtsspezifische Zuordnung der beiden graphischen Varianten ist bereits lange vor der Entzifferung unternommen worden, eine befriedigende Erklärung für die visuelle Umsetzung dieser Differenzierung konnte bislang aber nicht gefunden werden. Die graphische Variante, mit denen die weiblichen Tiere spezifiziert werden, könnte aus formaler Sicht an die Gestaltung des Logogramms für Frau (MUL) angelehnt sein, die Gestaltung des Symbols für männliche Tiere bliebe bei diesem Interpretationsansatz aber unerklärt. Daher scheint die Geschlechterdifferenzierung - in Analogie zu Differenzierungen bei anderen Logogrammen - mit Hilfe eines phonetischen Silbenzeichens vorgenommen worden zu sein, das in graphischer Einheit mit dem Logogramm verbunden ist (sog. Ligatur). Zur Spezifizierung männlicher Tiere dient offensichtlich das Silbenzeichen mit dem Lautwert -pa-. Die Identifizierung des Silbenzeichens, mit dem weibliche Tiere gekennzeichnet werden, erscheint schwieriger, doch legen die Belege für das Logogramm weiblicher Schafe in Linear A-Texten nahe, dass die Logogramme weiblicher Tiere um ein verkürzt ausgeführtes (-ti-) ergänzt sind. Trifft diese Vermutung zu, werden mit diesen beiden Silbenzeichen anderen Ligaturen entsprechend jeweils die Anfangssilben der Wörter für "männlich" und "weiblich" angegeben; jedoch nicht in griechischer, sondern in einer im minoischen Kreta verwendeten, vorgriechischen Sprache, wie die Verwendung dieser Differenzierung bereits in Linear A bezeugt.

© Jörg Weilhartner
e-mail: joerg.weilhartner@sbg.ac.at

This article should be cited like this: J. Weilhartner, Die graphische Gestaltung der Tierlogogramme auf den Linear B-Tafeln, Forum Archaeologiae 54/III/2010 (http://farch.net).



HOME