Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 54 / III / 2010

WIE BILDER LÜGEN. DIE FRÜHÄGÄER UND IHRE GÖTTER

Betrachtet man die umfangreichen heute vorliegenden Informationsquellen zu Religion, Götterkult und Götterbildern im minoisch-mykenischen Griechenland eingehender, so stößt man auf eine Reihe von Widersprüchen. Zwar begegnet in den kretischen Heiligtümern der fortgeschrittenen Spätbronzezeit eine Vielzahl von Terrakottafiguren der sog. 'Göttin(nen) mit erhobenen Händen' (Abb.), doch ist gerade für diese Periode ein reichhaltiges Pantheon weiblicher wie auch männlicher Gottheiten durch die Linear B-Texte klar nachgewiesen. Die Existenz so mancher in der Forschung häufig als typisch minoisch angesehener Gottheit, wie der sog. 'Schlangengöttin', erweist sich bei näherer Prüfung als eher zweifelhaft. Auf fundamentale Probleme methodischer Natur stoßen wir auch bei der Erörterung traditionsreicher religionsgeschichtlicher Fragen wie jener nach einem Monotheismus im älteren minoischen Kreta sowie jener nach Vorhandensein und Notwendigkeit eines Kultbildes im frühägäischen Ritual.
Insbesondere die reiche Ikonographie des neopalatialen Kreta stellt uns nicht nur vor elementare Probleme beim Erkennen individueller Gottheiten, sondern könnte auch Anhaltspunkte zur Lösung dieses eigenwilligen und widersprüchlich erscheinenden Charakters frühägäischer Religion(en) bieten. Obgleich in jüngsten Studien von M. Moss, J. Crowley und anderen versucht wurde, eine Vielzahl weiblicher und männlicher Gottheiten in den Bildquellen zu isolieren und zu definieren, kam der Verfasser unlängst zum Schluß, daß die Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen in der Ikonographie minoischer und mykenischer Götterbilder vielmehr auf ein 'Pantheon ohne Attribute' schließen lassen. Trotz reichhaltiger religiöser Bildthemen im neupalastzeitlichen Kreta hat es den Anschein, daß eine standardisierte, konsistente Ikonographie einzelner Gottheiten in der ägäischen Frühzeit niemals ausgebildet war oder sich zumindest nicht in derselben Weise durchsetzte, wie dies bei zahlreichen langlebigen Bildtopoi und ikonographischen Zyklen anderer Themenbereiche der Fall war. Wenig verwunderlich ist, daß auch in der mykenischen Palastzeit keine Anstrengungen beobachtet werden können, die - nach Aussage der Linear B-Texte - überaus zahlreichen Götter und Göttinnen ikonographisch klar zu definieren.
Die Erklärungen für dieses auf 'Anonymität' abzielende, letztendlich 'bilderfeindliche' kulturelle Verhalten gegenüber der individuellen Gottheit könnten vielfältig sein, und nur vergleichende religionswissenschaftliche Modelle versprechen nähere Aufschlüsse. Eine solche Diskussion kann selbstverständlich nur in größerem Rahmen geführt werden, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der diachronen Komponente einer frühägäischen Religionsgeschichte sowie kulturdynamischer Prozesse. Angesichts der omnipräsenten religiösen Ikonographie im neopalatialen Kreta des 17.-16. Jhs. wäre es jedoch gut vorstellbar, daß die politische 'Elite' im Palast von Knossos der bestehenden regionalen Diversität mit manipulativen religionspolitischen Strategien begegnete und zwecks soziopolitischer Bindung und Integration eine neue, systematisierte Religion zur Schaffung einer 'neuen minoischen Welt' initiierte.

Literatur zum Thema:
F. Blakolmer. A Pantheon without attributes? Goddesses and gods in Minoan and Mycenaean iconography, in: J. Mylonopoulos (Hrsg.), Divine Images and Human Imaginations in Ancient Greece and Rome, Religions in the Graeco-Roman World (Leiden - Boston 2010) 21-61.
J. Crowley, In honour of the gods - but which gods? Identifying deities in Aegean glyptic, in: L.A. Hitchcock - R. Laffineur - J. Crowley (Hrsg.), DAIS. The Aegean Feast, Proceedings of the 12th International Aegean Conference, University of Melbourne, Centre for Classics and Archaeology, 25-29 March 2008, Aegaeum 29 (Liège - Austin 2008) 75-87.
M.L. Moss, The Minoan Pantheon. Towards an Understanding of Its Nature and Extent, BAR Int. Ser. 1343 (Oxford 2005).


© Fritz Blakolmer
e-mail: fritz.blakolmer@univie.ac.at


This article should be cited like this: F. Blakolmer, Wie Bilder lügen. Die Frühägäer und ihre Götter, Forum Archaeologiae 54/III/2010 (http://farch.net).



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