Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 50 / III / 2009

ARTHUR EVANS' BEITRAG ZUR ENTZIFFERUNG DER LINEAR B-SCHRIFT

Zu Lebzeiten wurde Arthur Evans für seine Einschätzung des von ihm ‚Linear Class B' genannten Schriftsystems kaum kritisiert. Im Allgemeinen schloss man sich seiner Meinung an, dass diese Schrift der graphischen Fixierung einer vorgriechischen, nicht indo-europäischen Sprache unsicherer Herkunft diente. Durch ihre Entzifferung, die elf Jahre nach dem Tod von Evans erfolgte, und die Erkenntnis, dass Linear B für die griechische Sprache verwendet worden ist, hat sich sein Standpunkt als vollkommen falsch erwiesen. Aufgrund dieser Fehleinschätzung auf der einen Seite und der herausragenden, in der Entzifferung resultierenden Leistungen von Alice Kober, Emmett Bennett und Michael Ventris auf der anderen Seite bleibt Evans' Anteil an der Entzifferung zumeist unberücksichtigt. Dies liegt auch darin begründet, dass er nie eine methodische Arbeit über dieses Schriftsystem vorgelegt hat und sich seine Einzelbeobachtungen weit verstreut in vielseitigen Publikationen finden.
Das große Interesse, das Evans - dessen ursprüngliche Intention die Beweisführung über die Existenz eines altägäischen Schriftsystems war - dieser Schrift entgegenbrachte, wird nicht zuletzt dadurch bezeugt, dass er Umzeichnungen sämtlicher vollständig erhaltener Tafeln und größerer Fragmente selbst anfertigte. Bereits im Rahmen des Berichtes über die erste Grabungskampagne in Knossos (BSA 6, 1899/1900, 55-59) hat Evans eine Reihe von Aussagen über Form (zwei Formate), Intention (temporäre Archivierung) und Inhalt der Tafeln (primär wirtschaftliche Belange) sowie über formale Kriterien (Rechtsläufigkeit, Worttrenner), Funktion (primär administrativer Gebrauch) und Aufbau der Schrift (Silbenzeichen, Bildzeichen, metronomische Zeichen und numerische Zeichen im Dezimalsystem) getroffen, die ihre Gültigkeit bis heute bewahrt haben.
Darüber hinaus ist ihm der Grundstein für die normative Klassifikation der syllabischen Zeichen zu verdanken. Außerdem stellte er die Bedeutung formelhafter Silbenfolgen für die Gruppierung zusammengehöriger Texte fest. In linearen Ergänzungen bei Tierideogrammen erkannte er Angaben zur Geschlechterdifferenzierung und in Zusammenhang mit Personen- bzw. Inventarlisten identifizierte er sogar das Wort für ‚Summe'. Schließlich hat er zwei neben dem Ideogramm für Frau häufig auftretende Wörter auf Kinder bezogen und in den ergänzenden Termini zu Recht Altersangaben vermutet.
Obwohl er ansatzweise sogar Kriterien für die inhaltliche Einordnung abstrakter Ideogramme festlegte, wird in diesem Zusammenhang ein wesentliches Defizit seiner Beschäftigung mit der Linear B-Schrift offenkundig: die fehlende konsequente Anwendung richtiger Schlussfolgerungen. Außerdem hat sich insbesondere sein Festhalten an der Bedeutung des piktographischen Ursprungs der Bild- und Silbenzeichen negativ auf ein tieferes Eindringen in die Struktur der Schrift ausgewirkt. Besonders entlarvend erscheinen schließlich seine Versuche, eine Identität der hinter Linear A und Linear B stehenden Sprache zu belegen, wobei er die Schriftzeugnisse aus seiner Vorstellung einer bis an das Ende der Bronzezeit durchlaufenden ethnischen Kontinuität deutete.


Die für die Entzifferung nachhaltigsten Erkenntnisse erzielte Evans in Zusammenhang mit Silbenfolgen, die er als Personennamen interpretierte und bei denen er eine geschlechtsspezifische Verteilung der Endzeichen (i.e. feminine und maskuline Endungen) beobachten konnte. Darüber hinaus verwies er anhand der alternierenden Verwendung der Zeichen und bei ansonsten identischen Zeichengruppen zum ersten Mal auf eine Wechselbeziehung zwischen zwei Zeichen, ohne ihre phonetischen Lautwerte bestimmen zu wollen (Abb. A), eine Vorgehensweise, die mit Hilfe der sog. Kober triplets einen wesentlichen Fortschritt in den Bemühungen um die Entzifferung bedeutete (Abb. B).
Demnach kann zusammenfassend festgehalten werden, dass Evans trotz einiger methodischer Inkonsequenzen nicht nur eine gültige generelle Einschätzung zu Form und Inhalt von Linear B gegeben hat, sondern auch alle wesentlichen Ideen geformt hat, die durch systematische Analyse zur Entzifferung geführt haben. Ihm gebührt nicht nur die Ehre für die Entdeckung der Schrift, sondern auch für die Vorbereitung ihrer Entzifferung.

© Jörg Weilhartner
e-mail: joerg.weilhartner@sbg.ac.at


This article should be cited like this: J. Weilhartner, Arthur Evans' Beitrag zur Entzifferung der Linear B-Schrift, Forum Archaeologiae 50/III/2009 (http://farch.net).



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