Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 50 / III / 2009

LIVARI IN SÜDOSTKRETA

Die Bucht von Livari, etwa halbwegs zwischen Xerokampos und Goudouras in der jetzigen Gemeinde Levki (früher Agia Triada) des Bezirks Sitia in Südostkreta gelegen, wurde in der archäologischen Literatur erstmals 1938 von Fritz Schachermeyr in seinem "Vorbericht über eine Expedition nach Ostkreta" erwähnt: Der ihn begleitende Heidelberger Geograph Wolfgang Panzer las dort "einige stark abgewaschene Scherben auf, welche aus minoischer Zeit stammen könnten" [1]. 1958 besuchte Paul Faure eine die Bucht von Livari überblickende Höhle von "grand intérêt archéologique" mit "tessons MM 3" namens Alogara [2], in der er eine "Heilige Höhle" mit im 17. Jahrhundert n. Chr. vermauertem Eingang sah [3]. Bis zur Aufnahme archäologischer Feldforschung durch den Verfasser und seine Mitarbeiter blieben die beiden dürftigen Angaben, 1959 auch von Teresa Wroncka referiert [4], die einzigen Hinweise auf die für die Archäologie Kretas eminente Bedeutung des Küstenstreifens von Livari an der gleichnamigen Bucht. Die mit großen zeitlichen Intervallen von 1987 bis 2008 durchgeführten Geländebegehungen mit der Dokumentation anstehender Ruinen erweisen Livari inzwischen als eine vom ausgehenden Neolithikum bis in die späte Bronzezeit extensiv genutzte Siedlungskammer mit einer Reihe von Denkmälern, die hier interpretativ in grober chronologischer Abfolge kurz vorgestellt werden.


Den ältesten Hinweis auf die dauerhafte Anwesenheit von Menschen und gleichzeitig wohl einen ersten 'Kolonisationsvorstoß' in den bis dahin unbesiedelten Küstenbereich stellt die auf steilem Felshang am Rand einer tiefen Schlucht gelegene, befestigte 'Akropolis' von Katharades dar (SITE 35) [5]. Sie gehört zusammen mit der gleichzeitigen, etwa 175 m entfernten und eine zweite Schlucht überschauenden 'Bastion' (SITE 34) noch in das späteste Neolithikum, gemäß dem Keramikbefund in den von Peter Tomkins Final Neolithic (FN) IV genannten Horizont der letzten dreihundert Jahre des 4. Jahrtausends v. Chr. [6]. In den Erbauern der befestigten Höhensiedlung von Katharades vermeint Krzysztof Nowicki Land suchende Auswanderer aus der Dodekanes zu erkennen [7]. Näher zum Meer hin liegt auf Ost- und Südhang einer Kastrokephalaki genannten Rückfallkuppe eine langgestreckte, dörfliche Siedlung, deren Anfänge vielleicht ebenfalls noch in FN IV anzusetzen sind, die aber bis weit in die Frühbronzezeit hinein belegt war (SITE 38A) [8]. Ein vermuteter Opferplatz auf der darüber aufragenden Felsspitze in Form einer kleinen quadratischen Felsausnehmung [9] mit Felsspalt (SITE 38B) und eine Depot(?)höhle im Westhang der Kuppe (SITE 38C) mit FM IIB Vasiliki-Keramik müssen schon aus topographischer Sicht in Verbindung mit SITE 38A gesehen werden. Zur Siedlung gehört auch die ca. 350 m südlich, heute knapp am Meer gelegene Nekropole am Ort Skiadi mit dem bisher am weitesten im Osten Kretas lokalisierten Tholosgrab des Mesaratyps (SITE 37) [10]. Da das Sippengrab für einen Bevölkerungszuzug aus dem südlichen Zentralkreta zu sprechen scheint, wird zumindest ein Teil der Bewohner von Kastrokephalaki als Neuankömmlinge aufzufassen sein, die - wohl über Land aus Westen kommend - noch auf die Älteransässigen gestoßen sind, von ihnen absorbiert wurden oder sie ersetzt haben. Schließlich musste auch die Siedlung von Kastrokephalaki einer Neugründung weichen. Auf einem unfern weiter westlich gelegenen, bis an den heutigen Strand heranreichenden Hügelausläufer mit dem Namen Cheromylia (SITE 36) errichtete man eine großzügiger geplante und weitläufiger spationierte Küstensiedlung [11], von der jetzt allerdings ein Gutteil, vielleicht sogar mit ehemaligem Hafen, in Folge des eustatischen Meeresspiegelanstiegs im Wasser versunken ist. Ihre häufig aus großen, nahezu 'kyklopisch' anmutenden Steinen errichteten, geradlinigen Hausmauern und die weiten Räumlichkeiten unterscheiden sie deutlich von der Vorgängersiedlung mit kleineren Räumen, kleinteiligen, schiefwinkeligen Mauern und engen Treppengassen. Da der überwiegende Teil der in Cheromylia aufgelesenen und dokumentierten Keramik in die mittlere und späte Bronzezeit gehört, könnte damals auch die von Faure beschriebene Höhle Alogara als Kultort genutzt worden sein [12]. Mit dem Ende von SITE 36 erlischt im späteren 2. Jahrtausend v. Chr. jedoch die letzte permanente Besiedlung in Livari. Die Vermutung von Angelos Chaniotis, Livari sei "der Ort, wo man Stalai suchen sollte" [13], d.h. die Hafenstadt der von Praisos annektierten, klassisch/hellenistischen Polis, ist nach den Ergebnissen der jüngsten Untersuchungen nicht verifizierbar. Die sichtbaren Ruinen von Livari verweisen auf viel ältere, komplexere Siedlungsstrukturen und -aktivitäten.

[1] F. Schachermeyr, Vorbericht über eine Expedition nach Ostkreta, AA 1938, 479.
[2] P. Faure, Spéléologie et topographie crétoises, BCH 82, 1958, 515 Anm. 3.
[3] Ders., Iera Spilaia tis Kritis (Iraklio 1996) 164 Nr. 57.
[4] T. Wroncka, Pour un atlas archéologique de la Crète minoenne: Sitia I, BCH 83, 1959, 533.
[5] N. Schlager und Mitarbeiter(innen), Pleistozäne, neolithische, bronzezeitliche und rezente Befunde und Ruinen im fernen Osten Kretas. Dokumentation 2000, ÖJh 70, 2001 (2002), 192-201; K. Nowicki, The End of the Neolithic in Crete, AeA 6, 2002 (2003), 25 Nr. 26; T. Alusik, Defensive Architecture of Prehistoric Crete, BARIntSer 1637 (Oxford 2007) 34-35.
[6] P. D. Tomkins, Time, Space and the Reinvention of the Cretan Neolithic, in: P. D. Tomkins - V. Isaakidou (Hrsg.), Escaping the Labyrinth. The Cretan Neolithic in Context, Sheffield Studies in Aegean Archaeology 8 (Oxford 2008) 22 Tab. 3.1.
[7] K. Nowicki, The Final Neolithic (Late Chalcolithic) to Early Bronze Age Transition in Crete and the Southeast Aegean Islands: Changes in Settlement Patterns and Pottery, ebenda 207-213. 224-226.
[8] Teile der Siedlung von Livari/Kastrokephalaki wurden 2008 dokumentiert; die Publikation wird von Ute Günkel-Maschek in Zusammenarbeit mit Ludwig Fuchs und Marco Pietrovito vorbereitet.
[9] Vgl. das archaisch/klassische 'Hilltop Shrine' in Sougia an der Südküste Westkretas, K. Nowicki, Some Remarks on New Peak Sanctuaries in Crete: The Topography of Ritual Areas and Their Relationship with Settlements, JdI 122, 2007 (2008), 19-23.
[10] Schlager und Mitarbeiter(innen) (Anm. 5) 207-212; L. Goodison - C. Guarita, A new catalogue of the Mesara-type tombs, SMEA 47, 2005, 190-191 Nr. 46.
[11] Schlager und Mitarbeiter(innen) (Anm. 5) 202-207; Publikation unter Berücksichtigung neuer Befunde durch Tomas Alusik, Ludwig Fuchs und Marco Pietrovito.
[12] s. Anm. 3.
[13] A. Chaniotis, Die Verträge zwischen kretischen Poleis in der hellenistischen Zeit, Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien 24 (Stuttgart 1996) 386.

© Norbert Schlager
e-mail: norbert.schlager@univie.ac.at


This article should be cited like this: N. Schlager, Livari in Südostkreta, Forum Archaeologiae 50/III/2009 (http://farch.net).



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