Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 50 / III / 2009

e-ke-ra2-wo ‚DER MANN MIT DER LANZE'
Wortetymologie, Herrschertitulatur und Bildtopos

1) Aus dem Umstand, daß eine Reihe von mykenischen Texten aus Pylos eine wechselseitig austauschbare Entsprechung des Terminus wa-na-ka/Anaks und des Personennamens e-ke-ra2-wo nahelegen, hat eine Reihe von Forschern gefolgert, daß das Nomen wa-na-ka/Anaks den Titel des mykenischen Herrschers vertritt, während e-ke-ra2-wo den Personennamen des pylischen Herrschers darstellt. Zu den Vertretern dieser Auffassung zählen u.a. J. Chadwick und Th. Palaima, während andere Forscher, so etwa L. Palmer und J. Killen, ihr reserviert gegenüberstehen oder sie, wie zuletzt V. P. Petrakis, dezidiert ablehnen.
2) Wenn ich hier die Auffassung von Th. Palaima unterstütze, so zum einen aus der Überlegung heraus, daß in Pylos für eine zweite, in ihrer herausgehobenen Position dem Anaks weitgehend gleichkommenden Person, für die zudem ein Titel fehlen würde, kein Platz ist, zum anderen auch weil, wie ich meine, eine unlängst (2006) von Th. Palaima vorgeschlagene Etymologie des Namens (resp. Nomens; dazu unten) e-ke-ra2-wo eine zusätzliche Stütze dieser Auffassung bietet.
Bislang wurde der Name e-ke-ra2-wo als *Eche-lawon, d.h. ‚derjenige, der den laos hat/(er)hält', gedeutet. Unbefriedigend war jedoch, daß hierbei die durch das Zeichen ra2 angezeigte Doppelkonsonanz -lla- nicht berücksichtigt wurde. Nach der nun jüngst von Th. Palaima aufgezeigten Etymologie enthält die mykenische Schreibung die Lautung /Enkhellawon/ < /Enkhes-lawon/; dabei vereinigt das zweiteilige Kompositum das Nomen enkh- ‚Speer' und die verbale Wurzel /-law-/, die ihrerseits im griechischen Verbum apolauo vorliegt, welche nach Chantraine (GEW 1968) mit ‚profiter de, jouir de', also ‚seinen Vorteil ziehen aus, sich erfreuen an' zu übersetzen ist. E-ke-ra2-wo ist somit ‚derjenige, der seinen Vorteil aus dem Speer zieht resp. sich an seinem Speer erfreut'.
Eine gewisse Präzisierung des Nomens enkhos ergibt sich hinsichtlich seiner mykenischen Bedeutung aus dem pylischen Text Jn 829, in dem a3-ka-sa-ma e-ke-si /aichmans enkhesi/ erwähnt werden, was auf (bronzene) Spitzen für die (hölzernen) Speere/Speerschäfte verweist. Indirekt wird dadurch für enkhos eine Grundbedeutung im Sinne von Speerschaft angezeigt, ähnlich wie der homerischen /melie/Speer die Vorstellung des aus Eschenholz gefertigten Speerholzes zugrunde liegt. Im Vorderglied des Namens e-ke-ra2-wo ist somit nicht notwendig die mit der ehernen Spitze (aichme) versehene Lanze angezeigt; auch an den bloßen hölzernen Schaftstab ist zu denken.
3) Hinsichtlich der Frage, ob die Bildkunst der ägäischen Bronzezeit die Gattung des Herrscherbildes gekannt hat, hat sich die Forschung überwiegend reserviert bis ablehnend verhalten. Unter den Bildschöpfungen, die in dieser Diskussion um die Existenz des ägäischen Herrscherbildes eine vorrangige Rolle gespielt haben, standen insbesondere Darstellungen von Personen im Zentrum der Überlegungen, die in ihrer ausgestreckten Hand entweder einen Stab oder eine Lanze halten. Man hat darin einen Gestus der Autorität, sei es menschlicher oder göttlicher Natur, erkannt. Mehr als zehn Belege solcher Darstellungen sind davon aus der ägäischen Spätbronzezeit in verschiedenen Denkmälergattungen wie Fresken, Elfenbeinrelief und insbesondere Werken der Glyptik bezeugt. Als vielleicht bedeutendste Beispiele seien hier der sog. Prinzenbecher aus Agia Triada, das Elfenbeinrelief eines Kriegers aus Delos oder der - um den wenig schönen Ausdruck "master impression" zu vermeiden - große Siegelabdruck aus Chania genannt. Einige dieser Darstellungen wird man gewiß der Sphäre der Religion zuordnen und in den dargestellten Personen Gottheiten erkennen. Dies gilt u.a. für den sog. "mother on the mountain"-Abdruck aus Knossos wie auch für die epiphanische Gestalt auf dem Goldring im Ashmolean Museum. Sicherlich liegt die menschlich-irdische Sphäre in der Darstellung des Prinzenbechers, desgleichen bei den Lanzenträgern des genannten Elfenbeinreliefs aus Delos und dem Siegelstein aus Naxos vor.


Weniger eindeutig muß unser Urteil zunächst bei Bildzeugnissen wie dem großen Siegelabdruck aus Chania und zwei Siegelabdrücken aus Knossos mit einem Stabträger in Begleitung eines Löwen resp. einer mit Helm, Schild und Lanze ausgestatteten Gestalt ausfallen. Der Stabträger auf erstgenanntem Beispiel mag gleicherweise einen göttlichen oder menschlichen Astyanaks/Stadtbeherrscher wiedergeben; der Löwe kann ebenso symbolisches oder reales Begleittier der Gottheit wie des irdischen Herrschers (cf. Ramses II.) sein. Und entsprechend muß eine Lanze nicht notwendig auf einen irdischen Krieger hindeuten: auch eine Gottheit - gleichgültig, ob männlich oder weiblich - kann als KämpferIn auftreten. Doch hat, gerade was die Herrscherikonographie angeht, die Frage, ob göttlich oder menschlich, zwei weitere sich überlagernde Dimensionen. Zum einen haben in der Bildkunst auch Götter anthropomorphe Gestalt, zum anderen aber kann der irdische Herrscher auch göttliche Natur beanspruchen. Das heißt, daß, sofern nicht zusätzliche Differenzierungshilfen geboten werden, im Rahmen der Ikonographie sich der überirdische Herrscher-Gott nicht prinzipiell vom irdischen Gott-Herrscher unterscheiden läßt, wie entsprechend sich göttliche und menschliche Natur im Gottkönig treffen. Gleicherweise können auch Stab, Szepter und Lanze als göttliche Insignien verehrt werden oder die Gottheit vertreten.
4) Der Name e-ke-ra2-wo/Enkhellaon enspricht, wie gezeigt, inhaltlich dem Bildtopos des Stab(Schaft)- bzw. Lanzenträgers, wie ihn die ägäische Kunst bezeugt. In den pylischen Linear B-Texten erscheinen die Termini wa-na-ka/Anaks und e-ke-ra2-wo/Enkhellaon gleichsam synonym. Anaks, das (wie auch enkhos) keine gesicherte indoeuropäische Etymologie besitzt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein aus dem Minoischen ins Griechische übernommener Begriff. Dementsprechend werden die Bildmotive des Stab(Schaft)- wie auch Lanzenträgers aus der minoischen in die mykenische Bildkunst entlehnt. Wie aber ist die aus den Pylos-Texten evidente sprachliche Kongruenz von Anaks und Enkhellaon zu verstehen? Ist es Zufall, daß der Name des mykenischen Königs von Messenien wörtlich mit dem Bildtypus des irdisch-göttlichen Herrschers übereinstimmt und daß dieser messenische König im Titel Anaks zugleich Anspruch auf göttliche Wesenheit erhebt? Mit anderen, daraus folgenden Worten: Wäre es nicht denkbar, daß in e-ke-ra2-wo nicht primär ein Personenname, sondern die griechische Übertragung des minoischen Titels Anaks vorliegt, sodaß beide Termini austauschbar sind?
Freilich, wir wissen nichts (Sicheres) von der Etymologie und entsprechend auch nichts von der Bildung des Wortes Anaks. Daß in ihm, wie in Enkhe-(l)laon, ein zweigliedriges Kompositum vorliegt, ist, wenn schon nicht stringent auszuschließen, eher unwahrscheinlich. Kaum zu bestreiten hingegen ist, daß sich im minoischen Kulturkreis mit der Bezeichnung Anaks die Vorstellung des Stab(Schaft)- bzw Lanzenträgers verbunden hat. Vermutlich haben die mykenischen Griechen von der Etymologie des Wortes Anaks ebensowenig (oder noch weniger) gewußt als wir. Es bleibt somit also Vermutung, wenn wir als Hypothese erwägen, ob sich, sofern in e-ke-ra2-wo die gräzisierte Übertragung des minoischen Titels Anaks vorliegt, diese nicht aus dem Vorstellungsbild von der Erscheinung des Herrschers als Stab/Lanzen-Träger herleitet, wie es sich auch in den entsprechenden Darstellungen niedergeschlagen hat.
5) Das Bild des Herrschers als Stab/Lanzenträgers ist, wie abschließend erwähnt sei, nicht nur in den der mykenischen Kultur gleichzeitigen orientalischen Welt weit verbreitet; es findet sich auch in der griechisch-römischen Kunst bis an das Ende der Antike.

Postskriptum: Erst nach der Niederschrift des obigen Textes wurde ich auf den Umstand aufmerksam, daß auch Th. Palaima in seinem Beitrag von 1995 "The Nature of the Mycenaean Wanax" die minoischen Darstellungen von Stab- resp. Speerträgern als Evidenz für das spätbronzezeitliche Herrscherbild beigezogen hat; er bezieht auf sie die homerischen Ausdrücke skeptron und doru und hebt deren fallweisen synonymen Gebrauch hervor. Ohne seiner Stellungnahme vorgreifen zu wollen, glaube ich sagen zu dürfen, daß er, nach dem Erscheinen seiner jüngsten Studie (2006) mit der revidierten Etymologie von e-ke-ra2-wo, der hier vorgeschlagenen Verbindung von enkhos und den genannten Darstellungen seinerseits einen vorrangigen Stellenwert in seinen Überlegungen eingeräumt hätte.


© Stefan Hiller
e-mail: stefan.hiller@sbg.ac.at


This article should be cited like this: St. Hiller, e-ke-ra2-wo ‚Der Mann mit der Lanze'. Wortetymologie, Herrschertitulatur und Bildtopos, Forum Archaeologiae 50/III/2009 (http://farch.net).



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