Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 50 / III / 2009

UNFREIHEIT UND RELIGION IM FRÜHEN GRIECHENLAND

Die mykenische Palastzeit ist die erste Epoche der europäischen Geschichte, die dezidierte Aussagen über unfreie Lebens- und Arbeitsverhältnisse der damaligen Menschen erlaubt. Zwar gewähren archäologische Quellen nur vage Einblicke in die sozialen Verhältnisse dieser Zeit, da nur wenige Funde und Befunde vorsichtig mit der Existenz unfreier Bevölkerungsschichten in Verbindung gebracht werden können, doch ermöglichen die frühgriechischen Linear B-Texte tiefere Einblicke in die politische und soziale Struktur der mykenischen Palaststaaten und lassen so weitere Aufschlüsse zu Fragen von Abhängigkeit und Unfreiheit bestimmter Personengruppen zu.
ύ Im Zentrum des Interesses stehen dabei zahlreiche Täfelchen aus Knossos und Pylos, welche die Termini do-e-ra /do(h)ela/ und do-e-ro /do(h)elos/ verzeichnen, die den späteren, alphabetisch griechischen Bezeichnungen δούλη und δοûλος, also "Sklavin" und "Sklave" entsprechen. Die Übereinstimmung der Begriffe bedingt natürlich nicht zwangsläufig die Übereinstimmung der betreffenden Inhalte. Zu Recht war man daher skeptisch, ob die beiden Termini do-e-ra und do-e-ro auch in mykenischer Zeit zur Bezeichnung unfreier Personen gebraucht wurden. Dafür spricht aber zum einen, dass auf einigen knossischen Texten vom Verkauf einer do-e-ra bzw. eines do-e-ro die Rede ist, und zum anderen, dass do-e-ra und do-e-ro häufig gemeinsam mit einem Personennamen im Genitiv verzeichnet werden, der wohl den jeweiligen "Besitzer" bzw. die "Besitzerin" angibt.
Unter diesen "Besitzerangaben" finden sich Eigennamen und Funktionärsbezeichnungen von Männern und Frauen, darunter auch solche, welche in den Bereich der Religion verweisen. Ein Beispiel dafür stellt die Tafel PY Ae 303 dar:


Dieser Text verzeichnet mindestens 14 Frauen aus Pylos (pu-ro), die als do-e-ra einer i-je-re-ja /(h)ierejja/, einer "Priesterin", angesprochen werden. Interessant ist an diesem Text, dass sogar der Verwendungszweck bzw. das Betätigungsfeld der Unfreien angesprochen wird. Die Priesterin verfügt über die Sklavinnen nämlich e-ne-ka ku-ru-so-jo i-je-ro-jo /(h)eneka (h)ierojo khrusojo/ "wegen des Goldes des Heiligtums" bzw. "wegen des heiligen Goldes". Was allerdings darunter genau zu verstehen ist, muss unklar bleiben.
Doch nicht nur reale Personen treten als "Besitzer" von Unfreien auf, die Linear B-Texte verzeichnen genauso Sklavinnen und Sklaven, welche Gottheiten gehören, so etwa auf der Tafel PY Eo 269:


Dieser Text dokumentiert den Nießbrauch (o-na-to), welchen ein gewisser ka-ra-*56-so, der als te-o-jo do-e-ro /theojo do(h)elos/ "Sklave des Gottes" bezeichnet wird, an einem Grundstück im Besitz eines a-ka-ta-jo innehat. Die Frage nach dem Status dieses te-o-jo do-e-ro wirft ein großes Problem auf: Handelt es sich um einen Sklaven im Besitz eines Gottes bzw. eines Heiligtums oder haben wir es hier mit einem bloßen Titel bzw. einer Funktionärsbezeichnung zu tun, die nichts über die Freiheit oder Unfreiheit des Trägers aussagt? Leider muss diese Frage offen bleiben, te-o-jo do-e-ra bzw. do-e-ro kommen nämlich nur im Kontext der pylischen Katastertexte vor, welche keine diesbezüglichen Aussagen erlauben, da sowohl freie als auch unfreie Personen über o-na-ta verfügen konnten.
Eine besondere Rolle in der Diskussion von Unfreiheit und Religion im mykenischen Griechenland nimmt schließlich die Tafel PY An 607 ein:


Dieser Text, der aufgrund mehrerer in ihrer Bedeutung unklarer Termini der Forschung seit langer Zeit Rätsel aufgibt, verzeichnet insgesamt wohl 13 Frauen, welche durch die Nennung ihrer Eltern charakterisiert werden. Dabei ist jeweils ein Elternteil - wie auch die Frauen selbst - als (do-qe-ja) do-e-ra/do-e-ro bezeichnet. Dieses Dokument könnte damit unter Umständen auf eine Vererbung des persönlichen Status nach "der ärgeren Hand" hindeuten. Die zahlreichen mit dieser Tafel verbundenen Probleme können an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden, doch sei zumindest angedeutet, dass die postulierte religiöse Bedeutung mehrerer hier verwendeter Begriffe (z.B. do-qe-ja, ki-ri-te-wi-ja) zu hinterfragen ist.
Zusammenfassend lässt sich damit konstatieren, dass die Sklaverei in mykenischer Zeit bereits gut etabliert war und in den Linear B-Tafeln breiten Niederschlag gefunden hat. Auch Verbindungen zwischen Unfreiheit und Religion lassen sich allenthalben feststellen, vor allem durch die Angabe von Kultpersonal oder von Gottheiten als Besitzer von Sklaven. Die Details und Einzelheiten dieser Texte können aber oft noch nicht ausreichend verstanden werden, und so muss - wie so oft in der Linear B-Forschung - mit den Worten von Bertolt Brecht geschlossen werden: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen."

Literaturhinweis:
J. Fischer, Sklaverei und Menschenhandel im mykenischen Griechenland, in: H. Heinen (Hrsg.), Menschenraub, Menschenhandel und Sklaverei in antiker und moderner Perspektive. Ergebnisse des Mitarbeitertreffens des Akademievorhabens Forschungen zur antiken Sklaverei, Mainz, 10. Oktober 2006, FAS 37 (Stuttgart 2008) 45-84.

© Josef Fischer
e-mail: Aineias@gmx.at


This article should be cited like this: J. Fischer, Unfreiheit und Religion im frühen Griechenland, Forum Archaeologiae 50/III/2009 (http://farch.net).



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