Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 42 / III / 2007

KAMPFSPORTARTEN IM WANDEL DER ZEITEN

Der Charakter von Sport gibt Auskunft über die Werte und Prioritäten in einer Gesellschaft, wobei gerade die Kampfsportarten mit ihren Elementen der Gewalttätigkeit einen ungewöhnlich aufschlussreichen Einblick zulassen. Im folgenden Beitrag sollen einerseits die ,schweren Disziplinen', die einen festen Bestandteil der griechischen Spiele ausmachten, in ihrer Form und Bedeutung behandelt werden, andererseits auch die Entwicklung des Faustkampfes von der griechischen Antike über römische Umwandlungen - in Bezug auf Faustwehr und Charakter - bis in unsere heutige Zeit verfolgt werden, wobei sich die Frage stellt, was die Faszination dieser alten Sportart für ein modernes Publikum ausmacht.

Antike

Zu den Höhepunkten der griechischen Spiele gehörten die sog. ,schweren Disziplinen'. Sie umfassten das Ringen, das Pankration und den Faustkampf. Das Ringen (pále) gehört zu den ältesten überlieferten Sportarten und erfreute sich in den verschiedenen Kulturen des Altertums großer Beliebtheit. Das zeigt z.B. ein ägyptisches Edlengrab aus Beni Hassan (ca. 2000 v.Chr.), für dessen Ausschmückung hunderte gemalte Ringerpaare in verschiedenen Posen verwendet wurden [1].
Vor allem waren aber auch die Griechen in diesen Sport geradezu verliebt, und Bilder von Ringern sind auf Gefäßen, Siegeln, Münzen, aber auch als Metaphern in Literatur oder politischer Rede zahlreich vertreten [2]. Darüber hinaus spielen Ringkämpfe in den verschiedenen mythologischen Erzählungen eine Rolle; Helden wie Herakles oder Theseus messen ihre Kräfte im Ringkampf mit menschlichen oder fabelhaften Wesen [3].
Das Ringen brachte aber auch Vorteile im profanen Alltag: wer im Ringsport erfolgreich sein wollte, musste sich einem konsequenten Training unterziehen. Damit eignete er sich bestens zur Vorbereitung auf den Militärdienst [4]. Von frühester Jugend an begleitete er daher das Leben der männlichen - in Sparta auch der weiblichen - Nachkommenschaft. In den Gymnasien und Palästren wurden sie in den verschiedenen Techniken unterwiesen. Dort fanden sich aber auch erwachsene Männer von Rang und Namen ein. Philosophen wie Platon oder Tragödiendichter wie Euripides sind als gute Ringer bekannt. Von dem berühmten athenischen Politiker Perikles heißt es, er sei mit der Zunge bedeutend gewandter gewesen als im Ringgriff. Ein politischer Gegner meinte sogar, dass Perikles, wenn er ihn im Ringkampf zu Boden werfe, abstreitet, gefallen zu sein, und zwar so erfolgreich, dass selbst jene ihm glauben, die ihn mit eigenen Augen haben fallen sehen. [5]
Während die Boxer nur eine ebene Fläche für ihren Kampf benötigten, wurde den Ringern und Pankratiasten ein spezieller Sand gestreut. Für das Training ist sogar das Ringen im Schlamm überliefert, der es den Athleten zusätzlich erschwerte, die ohnehin schon von Schweiß und Öl schlüpfrigen Körper ihrer Gegner festzuhalten.

Bei den antiken Spielen gehörte der Ringkampf (Abb. 1) seit langem zum festen Programm - in Olympia seit 708 v.Chr. - und im Laufe der Zeit entstand eine umfassende Spezialliteratur, die in einer eigenen Fachsprache die zahlreichen Angriffsformen, Griffe, Würfe und Paraden erörterte [6]. Leider ist uns von diesen Texten so gut wie nichts erhalten. Das Ziel eines jeden Ringkampfes aber ist klar: zu versuchen den Gegner dreimal niederzuwerfen oder aufs Knie zu zwingen. Besonders ruhmreich war ein Sieg im Ringkampf, wenn man ihn als aptos, also als einer, der nicht gefallen war, errang [7]. Simonides rühmt deshalb in einem Epigramm den berühmtesten Ringer des Altertums, den aus der unteritalischen Stadt Kroton stammenden Milon, um dessen Gestalt, Kraft, Selbstdisziplin aber auch Ernährung sich zahlreiche Legenden ranken: ihm schenkte siebenmal Pisa (Olympia) den Preis; nie aber sank er ins Knie. [8]
Um den Gegner zu Boden zu zwingen waren Griffe am ganzen Körper erlaubt, vom Kopf bis zu den Füßen, ebenso Beinausschlagen und Beintreten. Die erfolgversprechendste Taktik richtete sich nicht zuletzt auch nach dem jeweiligen Gegner, denn da die Teilnehmer nicht in Gewichtsklassen, sondern lediglich in Altersklassen getrennt wurden, entschied hauptsächlich der Körperbau der Athleten, welche Griffe und Würfe zum Einsatz kamen. Ein kleiner, wenn auch flinker Ringer kann schwerlich einen viel größeren und schwereren mit einem Hüft- oder Pendelschwung herumwirbeln oder lange in der Halsumklammerung halten. Daher trachteten die Athleten, die bei den großen Spielen erfolgreich sein wollten, ihr Körpergewicht konsequent zu steigern - meist mit überspannten Ernährungspraktiken [9].
Die moderne Forschung hat sich bemüht, den ,sauberen' Ringkampf klar vom brutalen Faustkampf und Pankration (Abb. 2), in dem außer Beißen, Kratzen sowie Augenausdrücken alles erlaubt war, abzugrenzen. Umstritten ist, inwieweit es auch im Ringkampf statthaft war, den Gegner durch schmerzhaftes Schlagen, Würgen, Schläge in die Magengrube oder Verdrehen der Gelenke zum Aufgeben zu zwingen [10]. Dass neben den ,Standards' wie Nackenzug, Beinwegschlagen, Rumpfklammer oder Schulterwurf auch solche Taktiken zur Anwendung kamen, beweisen nicht nur Vasenbilder [11], sondern auch Beschreibungen antiker Schriftsteller, so etwa zweier Statuen in Olympia durch Pausanias: […] ein Pankratiast aus Sikyon, Sostratos, der den Beinamen 'der Handkämpfer' hatte. Er ergriff nämlich seinen Gegner an den Händen und presste sie und ließ nicht früher los, als bis er merkte, dass er den Kampf aufgab. […] Neben Sostratos ist ein Ringkämpfer Leontiskos dargestellt, […] und soll […] den Ringkampf ebenso ausgeübt haben wie der Sikyonier Sostratos das Pankration. Denn auch Leontiskos habe die Ringer nicht zu werfen verstanden und durch Fingerbrechen gesiegt. [12]

Was machte nun aber den Unterschied zwischen Ringkampf und Pankration aus? Das Pankration ist eine griechische Erfindung und wurde erst 648 v.Chr. olympisch. Das Wort bedeutet ,Allstärke' oder ,Allsieg', was nicht verwundert, da das Pankration die Kombinationssportart schlechthin war. Sowohl Ringkampfwürfe, Würgen und Pressen, aber auch Boxhiebe, Tritte und Schläge mit Armen und Beinen waren erlaubt.
Verboten waren nur das Beißen und das Bohren, in Sparta nicht einmal das [13]. Trotzdem wird das Bohren der Finger in die Augenhöhlen des Gegners oft genug in Vasenbildern dargestellt, teilweise jedoch als Regelwidrigkeit durch den Schiedsrichter mit seinem Stock geahndet [14]. Schläge mit Hand und Fuß waren ein wirkungsvolles Mittel um den Gegner zu schwächen oder sich aus seinem Griff zu lösen. Die Pankratiasten trugen zuweilen leichte Boxriemen, die es ihnen erlaubten, härter zuzuschlagen, ohne Verletzungen an den Knöcheln oder den Handgelenken befürchten zu müssen [15]. Das Treten galt praktisch als Erkennungsmerkmal dieser Sportart. In einer Satire auf die Berufsathleten verleiht Galien den Siegespreis im Pankration wegen seiner hervorragenden Fähigkeit, Tritte auszuteilen, einem Esel [16].
Die Pankratiasten wurden sprichwörtlich für Menschen, die sich allen Situationen gewachsen zeigten. In der Ausgangsstellung hielten sie die Finger leicht geschlossen, in der Mitte zwischen geschlossener Faust und geöffneter Hand, und konnten auf diese Weise je nach Lage ebenso schnell zustoßen wie zupacken. Da das Berühren des Bodens in dieser Sportart ohne Bedeutung war, durfte der Pankratiast jeden Trick anwenden, der geeignet war, ihn schlussendlich die Oberhand gewinnen zu lassen, und er kannte eine ganze Reihe von Würfen, bei denen er seinen Gegner packte und sich mit ihm zusammen rückwärts fallen ließ. Entsprechend stellte Pindar in Bezug auf die Pankratiasten fest: Man muss alles tun, um den Gegner zu vernichten. [17]
Eine äußerst effiziente Technik stellte der Scherengriff um die Taille dar, sei es beim stehenden oder beim liegenden Gegner. Sie übte nicht nur gewaltigen Druck auf dessen Unterleib aus, sondern ließ auch die Hände zum Würgen frei. Eine ausführliche Beschreibung einer solchen Schere, die dem zweifachen Olympiasieger Arrichion bei der 54. Olympiade (564 v.Chr.) den Tod brachte, obwohl er noch im Sterben dem Gegner so zusetzte, dass dieser den Kampf aufgab, verdeutlicht auch das erbarmungslose Kämpfen mit allen Mitteln, das das Pankration ausmachte: Nachdem also der Gegner Arrichion schon mitten um den Leib gepackt hatte, wollte er ihn töten, drückte ihm den Arm gegen die Kehle und nahm ihm damit den Atem, während er ihm die Schenkel gegen die Leisten presste und die Fußspitzen in beide Kniekehlen wand. Durch diesen Würgegriff kam er zwar Arrichion zuvor, da von nun an der Schlaf des Todes dessen Sinne zu umfangen begann, aber da er die Anspannung seiner Schenkel lockerte, entkam er nicht Arrichions List. Denn Arrichion stieß mit dem Fuß nach hinten, wodurch die rechte Seite seines Gegners in Gefahr geriet, weil das Knie jetzt in der Luft hing. Dann hielt er den Gegner, der nun eigentlich kein Gegner mehr war, an seinen Körper gepresst, und indem er sich nach links neigte und die Fußspitze seines Gegners in der Kniekehle einklemmte, renkte er ihm durch die Gewalt der Drehung in die andere Richtung den Knöchel aus. [18]
An derselben Stelle erfahren wir aber noch mehr zur Verehrung, die denjenigen Athleten zuteil wurde, die entgegen allen Schmerzen und Verletzungen, ja auch angesichts des drohenden Todes, nicht ans Aufgeben dachten, sowie zu den Reaktionen der Zuseher, was eine interessante Vergleichsmöglichkeit mit den weiter unten behandelten Vorkommnissen im modernen Boxsport bietet. Noch einmal also Philostrat: […] Arrichion, der siegend den Tod fand, erhält den Kranz, und dieser olympische Richter bekränzt ihn […] denn er hat offenbar nicht nur seinen Gegner, sondern ganz Hellas bezwungen […] Jedenfalls sind sie von ihren Sitzen aufgesprungen und schreien; die einen werfen die Hände empor, andere ihr Gewand, diese springen in die Luft, jene ringen vor Begeisterung mit ihrem Nachbarn […] Denn obwohl es sicher etwas Großes ist, dass er bereits zweimal in Olympia gewonnen hat, so ist doch dies jetzt größer, dass er den Sieg mit dem Leben erkaufte und in die Gefilde der Seligen eingeht noch bedeckt mit dem Staub des Kampfes. Halte das nicht für Zufall! Aufs klügste hat er seinen Sieg vorbereitet [19].
Das Pankration war beim Publikum äußerst beliebt, da es durch seine verschiedenen Techniken für abwechslungsreiche Kämpfe sorgte und unterschiedliche Athleten mit individuellen Stärken und Fähigkeiten gleichermaßen erfolgreich sein konnten. Gleichzeitig aber war man sich der Gefährlichkeit und Unannehmlichkeiten für die Athleten bewusst und vom Pankration zu träumen galt einem griechischen Traumdeutungsbuch zufolge als böses Omen [20].

Noch schlimmer allerdings war es vom Boxen (pygmé) zu träumen, denn es kündigte körperlichen Schaden an [21]. Trotzdem (oder gerade deswegen?) gehörten die Faustkämpfe bei den griechischen Spielen zu den bei den Zusehern beliebtesten Bewerben. Auch die Zahl der Ehrenstatuen- oder Inschriften für Boxer oder Kampfsportler im Allgemeinen (es gab ja auch Athleten, die sowohl im Ringen als auch Pankration und Faustkampf antraten) ist verhältnismäßig groß. So ist auch diese Grabinschrift aus Olympia weder bedauernd noch verspottend gemeint, sondern bewundernd und ehrfurchtsvoll: Agathos Daimon aus Alexandria, genannt 'das Kamel', Sieger in Nemea. Er starb hier im Faustkampf, nachdem er zu Zeus um Sieg oder Tod gefleht hatte. Alter 35 Jahre. Lebewohl! [21]

Boxen verlangte von den Athleten ein hohes Maß an Durchhaltevermögen und Tapferkeit. Ihre Fähigkeit, Schmerzen und Verletzungen schweigend hinzunehmen, war geradezu sprichwörtlich. Dies drückt auch der Kopf einer lebensgroßen Bronzestatue aus, die zu den wenigen Stücken gehört, die von den zahlreichen Sieger- und Ehrenstatuen, die Pausanias in Olympia gesehen hat, noch erhalten sind. Bart und Gesichtszüge geben einen Hinweis darauf, dass der Faustkampf auch noch im fortgeschritteneren Alter ausgeübt werden konnte. Die Kampferfahrung ist diesem Boxer buchstäblich ins Gesicht geschrieben: Die Nase ist plattgeschlagen, die Ohren zu den berüchtigten 'Blumenkohlohren' deformiert [22].
Der Kopf gehörte zu einer Siegerstatue (Abb. 3). Die einzelnen Plättchen des Olivenkranzes waren aus Metall an das sich durch das dichte und wirre Lockenhaar windende Band angesetzt. Auch die Augen sowie die Unterlippe waren eingesetzt. Es stellt sich die Frage, ob es sich bei diesem finster blickenden, von Verletzungen gezeichneten Porträt um die getreue Wiedergabe realer Gesichtszüge handelt (dabei dachte man z.B. an den bekannten Faustkämpfer Satyros, da aus antiken Schriftquellen bekannt ist, dass der Künstler Silanion, der in der zweiten Hälfte des 4.Jhs. v.Chr. tätig war, von ihm eine Statue geschaffen hat [23]), oder ob es sich um ein Typenporträt, um eine Charakterisierung eines erfolgreichen Pugilisten handelt.
Für die Boxkämpfe wurden die Stadien nicht wie für Ringkampf und Pankration besonders präpariert und der Kampfplatz war auch nicht wie der moderne ,Ring' begrenzt. Wenn die Schiedsrichter jedoch den Eindruck bekamen, die Kontrahenten wichen einer direkten Konfrontation aus, konnten sie sie mittels Stangen oder Leitern zwingen, auf engem Raum zu kämpfen [24]. Die Kampfrichter sorgten auch dafür, dass keine regelwidrigen Schläge angewandt wurden und riefen die Boxer gegebenenfalls mittels Stöcken zur Ordnung.


In einem Turnier gab es keine Runden - ein Kampf war entschieden, wenn ein Gegner kampfunfähig (oder tot!) am Boden lag, oder durch das Ausstrecken von einem oder zwei Fingern sein Aufgeben signalisierte (Abb. 4). Die einzelnen Teilnehmer arbeiteten sich nach dem k.o.-System von Gegner zu Gegner weiter, wobei man je nach Anzahl auch in den Genuss eines Freiloses kommen konnte. Eine Einteilung der Bewerber erfolgte nicht durch Gewichtsklassen, sondern in drei bis fünf Altersklassen.
Bei einem Boxkampf zählte aber keineswegs nur rohe Kraft oder wer die gegnerischen Treffer und die sengende Sonne in den Freiluftstadien länger verkraften konnte. Die Quellen berichten uns auch von ausgesuchten Technikern, die drei Gegner bezwungen haben, ohne einen Schlag oder eine Verwundung am Körper erhalten zu haben [25].
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass der Schutzgott des Boxens nicht - wie man vielleicht annehmen könnte - der Kriegsgott Ares ist, der seine Freude am ungezügelten Kampf findet, sondern Apoll, der Gott der Kunst, Musik und geistigen Schöpfungen, der in dieser Funktion den bei Plutarch überlieferten Kulttitel Pyktes annimmt. In einem mythischen Boxkampf mit Ares besiegt er diesen und beweist damit die Überlegenheit technischen Könnens gegenüber blinder Brutalität [26].
Philostrat hatte schon darauf hingewiesen, dass sich Boxer, im Unterschied zu Läufern, Diskus- und Speerwerfern oder Ringern, im Training nicht wie in tatsächlichen Wettkämpfen verhalten konnten, da sie ansonsten wegen Verletzungen kaum Gelegenheit hätten, zu diesen antreten zu können [27]. Man brauchte spezielle Trainingsmethoden und -bedingungen, weshalb man für das intensive und anstrengende Training Sand- oder Kornsäcke (korykos) verwendete, sich mit gymnastischen Übungen gelenkig hielt oder im Schattenboxen übte (Abb. 5). Maß man sich im Training mit einem Gegner, so trug man dicke, kugelförmige Handschuhe, sog. sphairai (= Bälle), und Lederstreifen als Ohrenschützer, um die Verletzungen gering zu halten.
Bis zum 4.Jh. v.Chr. kämpften die Faustkämpfer (pygmes) entweder gänzlich ohne Ausrüstung oder mit langen weichen Lederriemen, die je nach Wunsch als Stütze über die Handgelenke oder bis in die Mitte der Handflächen gewickelt wurden. Später wurden für Wettkämpfe die sog. ,scharfen Riemen' eingeführt - vorgeschnürte Handschuhe mit Löchern für die Fingerspitzen und einem scharfen Lederstück an den Knöcheln, die blutige Verletzungen beim Gegner hervorriefen (Abb. 6).


In Rom entwickelten sich im Laufe der Zeit verschiedene Varianten der Riemen und Handschuhe, die für noch mehr Brutalität im Boxsport sorgten. Wie schon bei griechischen Boxern ab dem 4.Jh. v.Chr. nachweisbar, wurden die scharfen, verhärteten Lederriemen bis zum Ellenbogen gewickelt und endeten oft in einem Überzug aus gelockter Lammfellwolle, die es den pugiles, den Faustkämpfern, unter anderem ermöglichte, sich Blut und Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Im Laufe des 3. oder 2.Jhs. v.Chr. geriet die Faustwehr zu einer wirklichen Waffe mit einem zylindrischen Ring, der aus mehreren Lederschichten gebildet war, die die Knöchel und unteren Fingerglieder umgaben, dabei aber die Finger freiließen. Dieser sog. caestus blieb bis in die späte Kaiserzeit in Verwendung und ist in Form von Terrakotta- oder Bronzestatuen, sowie auf Mosaiken, Vasen oder Reliefs mehrfach belegt [28]. Das aufgrund seines Realismus und seines guten Erhaltungszustandes sicher berühmteste Beispiel ist der sog. 'Thermenboxer' (Abb. 7), eine Bronzestatue in Form eines sitzenden Faustkämpfers, an der man sowohl die Form des caestus als auch die durch ihn hervorgerufenen Verletzungen beobachten kann.
Dargestellt ist ein bärtiger Athlet, der aufgrund der Schlagriemen an seinen Händen eindeutig als Faustkämpfer zu identifizieren ist. Es handelt sich dabei um in unübertroffener Detailgenauigkeit ausgeführte 'scharfe Riemen', wie sie seit dem 4. Jh. getragen wurden. Gut zu erkennen ist neben den Lederpartien der Abschluss aus Schaffell. Der Boxer sitzt auf einem modern ergänzten Sockel. Sein Kopf ist nach rechts gewendet, sein Blick geht nach oben. Das Original zeigt deutlich sichtbare Spuren eines soeben beendeten Kampfes: klaffende Wunden, aus denen Blut tropft. Dieser Realismus wird durch Einlagen aus rotem Kupfer erreicht. Kupfereinlagen auch auf dem Körper und der Faustwehr zeigen an, dass das Blut vom Kopf heruntergetropft ist. Aber nicht nur Blut zeugt von der Härte des Kampfes, sondern auch eine Einlage aus bläulich schimmerndem Metall über dem rechten Auge, die wohl einen Bluterguss andeuten soll. Die Blessuren zeigen, dass das vornehmliche Ziel der Schläge der Kopf war. Auch dieser Kämpfer hat wieder die typischen Blumenkohlohren. Sein Gesichtsausdruck verdeutlicht den Grad seiner äußersten Erschöpfung.
Der Gegenstand, auf dem sich der erschöpfte Kämpfer ursprünglich niedergelassen hat, ist nicht erhalten. Als man die Statue fand, saß sie auf einem umgekehrten Kapitell. Man hatte sie dort abgesetzt und vergraben, um sie vor einer Katastrophe zu schützen. Das zeigt, dass man dem Kunstwerk offenbar noch in der Spätantike großen Wert beimaß. Der Fundort in der Nähe einer kleinen konstantinischen Thermenanlage könnte darauf hindeuten, dass die Statue einst zur Ausstattung dieses Thermengebäudes diente [29].
Die Frage nach der Identität des Boxers - sei sie nun mythologischer Natur, Charakterstudie oder Porträt eines antiken Faustkämpfers -, kann nur schwer beantwortet werden. Noch einmal betont werden soll aber die künstlerische Qualität, die Detailtreue und Sorgfalt mit der der 'Thermenboxer' ausgeführt ist, der auf jeden Fall auch zu seiner Zeit eine besondere Bedeutung gehabt haben muss, da die rechte Hand von unzähligen Berührungen abgegriffen ist.
Die Entwicklung ging während der Kaiserzeit so weit, dass die nun oft bis knapp unter die Achsel reichenden caesti vorne mit Eisendornen oder Metallplatten bewehrt sein konnten, wie sie z.B. auf Mosaiken in den Caracallathermen in Rom oder in der tunesischen Provinzstadt Thina zu sehen sind [30]. Auch der Arm einer Boxerstatuette aus Terrakotta in der Archäologischen Sammlung der Universiät Wien (Inv.Nr. 1508) zeigt einen leicht angewinkelten Arm bis zur Achsel, der eindeutig mit einem caestus bewehrt ist. Drei Metalldornen stehen über die Knöchel der abgewinkelten Finger hinaus, die von einer Schlagplatte verdeckt werden. Zu sehen ist nur der Daumen, der seitlich auf der Platte aufliegt. Die Schlagplatte geht in einen Wulst entlang der Knöchel über, hinter dem die kreuzförmig geschnürten Lederriemen quer über den Handrücken ansetzten. Ab dem Handgelenk sind die Riemen zur Stabilisierung bis knapp unter den Ellenbogen parallel um den Unterarm gewickelt. Die einzelnen Riemenstränge sind durch alternierend schräg gesetzte Einkerbungen angedeutet. Über dem Ellenbogen wird das Schaffell sichtbar, das durch kreisförmige Eindrücke angegeben wird und unter der Achsel in einem Wulst endet.
Welche Wunden ein derartiger Handschuh verursachen konnte, zeigt beispielsweise ein Spottgedicht aus der Zeit Kaiser Neros, in dem einem Faustkämpfer per richterlichem Entschluss sein Erbschaftsanteil aberkannt wird, da er aufgrund der entstellenden Verletzungen im Gesicht keinerlei Ähnlichkeit mit der Familie mehr aufwies [31].
So ist es auch nicht verwunderlich, dass der römische Faustkampf immer weiter vom griechischen agon, der weiterhin u.a. bei den Olympischen Spielen durchgeführt wurde, abrückte und ebenso wie die Gladiatorenkämpfe bei der Bevölkerung zwar fanatisch herbeigesehnt, aber von besorgten Herrschern oft verboten wurde, und daß die pugiles zwar bewundert, aber innerhalb des Gesellschaftsgefüges nicht besonders geachtet waren [32].

Boxen in der modernen Zeit

Boxen - eine primitive Zurschaustellung von Gewalt und Brutalität, die in unserer modernen zivilisierten Gesellschaft keinen Platz haben dürfte? Warum aber locken dann Boxkämpfe immer wieder ein Millionenpublikum vor die Fernsehschirme und drängt sich die Prominenz aus Film, Politik und Wirtschaft um die besten Plätze am Ring?
Es soll im folgenden kurz der Blick darauf gerichtet werden, was die Menschen auch heute zu diesem in mehr oder weniger ungebrochener Tradition der Antike stehenden Sport hinzieht und was die Faszination eines modernen Boxspektakels ausmacht.

Zum Phänomen der kulturübergreifenden Faszination, die der Faustkampf auf die verschiedensten Bevölkerungsschichten ausübt, heißt es im Vorwort zu Bertram Jobs monumentalem Bildband über das Boxen: Es gibt nicht viele Sportarten, die auf den fünf Kontinenten über alle kulturellen Unterschiede hinweg mit der gleichen Intensität ausgeübt und mitverfolgt werden. Das Boxen aber gehört länger und selbstverständlicher als jede andere Disziplin der Leibesübung dazu. Im Bombast des Hotelcasinos von Las Vegas, wie im schmucklosen Anbau eines kleinen Lokals irgendwo hinter Brisbane, in den offenen Stadien von Bangkok wie im noblen Ambiente eines Londoner Dinnerbox-Abends - überall erzählt die Sprache der Fäuste vor wechselnder Kulisse die gleiche Geschichte von Mut, Behauptung, Untergang und Rückkehr. Denn diese Sprache ist ebenso anschaulich wie universal: Was mit zwei Kontrahenten in dem hell erleuchteten Ringquadrat geschieht, kann jeder Mensch auf diesem Globus nachvollziehen. [33]
Vom komprimierten, in einem Bild auf den Punkt zu bringenden Verhältnis des aufrechten Triumphators zu dem geschlagenen, buchstäblich am Boden zerstörten Gegner schwärmt auch Ringfotograf Richard B. Woodward, wenn er von einem universalen Esperanto für Gewinnen und Verlieren [34] spricht, und mittlerweile werden Boxfotos von großen Museen wegen ihrer symbolträchtigen Aussagen, die über den reinen Sport hinausgehen, für ihre Sammlungen angekauft.
Mit erstaunlicher Kontinuität haben ,große Kämpfe' und herausragende Faustkämpfer von der Antike bis in die Gegenwart, von Onomastos bis zu Muhammad Ali, größte öffentliche Aufmerksamkeit provoziert. Römische Imperatoren und zeitgenössische Staatsoberhäupter bemühten sich um großspurig inszenierte Veranstaltungen, und griechische Versdichter genauso wie amerikanische Literaten mischten sich unter die Fans, um über sie zu berichten. Boxen und Literatur sind, so unterschiedlich sie auf den ersten Blick scheinen mögen, seit jeher eng miteinander verwoben und ohne die Verbreitung durch Berichte über Kämpfe, Biographien über berühmte Athleten, Gedichte, Kurzgeschichten, Zeitungsartikeln und Lob- und Schmähreden würde dem ,Mythos Boxen' nicht immer wieder neues Leben eingehaucht werden. So manch berühmter Schriftsteller, wie z.B. Ernest Hemingway, hätte laut eigener Aussage auch durchaus die Feder mit dem Boxhandschuh vertauschen mögen [35].
Kaum ein anderer Sport weist ein derart gemischtes, aus allen Schichten und Milieus kommendes Publikum auf (Abb. 9). Vom einfachen Volk bis zum (Geld-)Adel, der heute statt per Kutsche in der Stretchlimousine vorfährt, ist am Ring traditionell die gesamte Pyramide der Gesellschaft vertreten.
Weder die bisweilen fragwürdigen, manipulativ organisierten Geschäfte mit dem Sport oder Skandale und Ausschreitungen der Aktiven, noch die blutigen, teilweise tödlichen Verletzungen konnten den Stellenwert des Boxens nachhaltig erschüttern. Was macht die Faszination des Boxens in einer so auf ihre Humanität und Zivilisiertheit bedachte Gesellschaft wie der unsrigen aus, in der Boxen zwar wenig Ansehen genießen mag - Popularität hat es dennoch genug.
Ist es die Möglichkeit, als Zuschauer eigene Aggressionen über die Boxer abzubauen, sich mit modernen, männlich-dominanten Helden zu identifizieren [36], sich von den aufbrausenden Emotionen mitreißen zu lassen und in einer ,geregelten Extremsituation' aus dem Alltag auszubrechen? Handelt es sich um nichts weiter als um eine Wiederkehr primitiver, stammesgeschichtlich tradierter Verhaltensmuster [37] oder um die Wertschätzung menschlicher (männlicher) Tugenden wie Selbstdisziplin, Durchhaltevermögen, Ausdauer, Kraft, Reaktionsfähigkeit und Schnelligkeit?
Jeder Boxkampf ist eine Geschichte - ein vollständiges und hochkarätiges Drama ohne Worte, schrieb die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates [38]. Er ist mitnichten ein einstündiger sportlicher Wettstreit zwischen anonymen Athleten, sondern an jedem Boxer hängt eine Geschichte aus Aufstieg und Niedergang, Hoffnung auf Verbesserung des persönlichen Ansehens oder des sozialen Status in der sich die Zuschauer wieder finden und ihre eigenen Hoffnungen und Ängste in die Fäuste der Männer im Ring legen können.
Der langjährige ORF-Kommentator und Box-Spezialist Sigi Bergmann, den schon immer am Boxen fasziniert hat, dass körperlich Schwächere Rohkraft durch Technik ad absurdum führen können [39], ist überzeugt, dass Boxer wie Muhammad Ali, die sich nicht durch Brutalitäten sondern sportliche Leistung im Ring auszeichneten und außerhalb durch Intelligenz und Überzeugungskraft auffielen, dazu beitrugen, dass auch die intellektuelle Schicht von ihm angesprochen wurde: ... damals haben Leute, die das Boxen zutiefst verachtet haben, alle zugeschaut. Beim ersten Kampf gegen Frazier, dem "Fight of the Century" am 8. März 1971, haben über zwei Millionen Österreicher zugeschaut, um vier Uhr in der Früh! Wenn das heute der Moik und die Vera zusammen haben, machen sie ein Fest. [40]


Dem entgegen steht eine Aussage von Supermittelgewichtsweltmeister Dariusz ,Tiger' Michalczewski: Boxen ist knallhart. Ich will einen Umhauen und er mich - so einfach ist das. […] Schauen sie sich doch Tyson an, den wollen auch alle Reichen und Intellektuellen sehen, obwohl er seine Gegner allesamt wegputzt. Das ist nämlich Profiboxen pur: Umhauen und kassieren. [41]
Es ist eine Tatsache, dass sich seit Jahrhunderten Adlige, Politiker, Staatschefs, Schauspieler, Modezaren, Industrielle, Sportgrößen, Popstars und Opernsänger - jeweils beiderlei Geschlechts - um die VIP-Plätze nahe dem Ring drängen, für die die Preise heute bis zu mehreren tausend Dollars betragen können. Dabei gibt es neben solchen, die den Kampfabend nur als willkommene Gelegenheit sehen, um die eigene Publicity voranzutreiben, in einer Gesellschaft, in der es mittlerweile eine Frage des Status geworden ist, sich im Smoking und Abendkleid mit Champagner in den Ehrenplätzen am Ring sehen zu lassen, auch erklärte Box-Fans wie Frank Sinatra (Abb. 10) oder Alain Delon. Am 8. März 1971, beim Showdown zwischen Joe Frazier und Muhammad Ali, drängten sich Weltstars wie Diana Ross, Dustin Hoffman und viele andere im New Yorker Madison Square Garden. Burt Lancaster war als Co-Kommentator für die Closed-Circuit-Übertragung engagiert worden und Frank Sinatra trieb sich mit einer Kamera im Auftrag des Life-Magazins zwischen den Ringfotografen herum [42].
Mindestens ebenso wie sportliche Leistungen, wenn nicht mehr, entscheidet der Stil des Auftritts, das Image, das sich ein Boxer zulegt, über Akzeptanz und Popularität beim Publikum. Als ,Darsteller in Handschuhen' [43] darf der Boxer gut sein oder böse, brutal, listig, fair oder arrogant, nur eines nicht: ausdruckslos. Denn wer könnte sich schon mit einem Akteur ohne Profil identifizieren? So sind die oft wenigen Minuten, in denen das tatsächliche Kräftemessen der Kontrahenten im Schlagabtausch stattfindet, nur ein Bruchteil der Show, die den Boxsport ausmacht. Dem Kampfabend geht ein wochen- oder monatelanger ,Hype' voraus, die Gegner bedenken einander mit demütigenden Aussagen. Publicity-Shots von den Boxern in heroisierenden Posen, die sie als Könige, Biester oder Götter verherrlichen, werden in Umlauf gebracht und am Abend des Kampfes betritt ein jeder mit einer ausgefeilten Auftrittsshow die Arena. Sigi Bergmann erinnert sich an einen Kampf von Marvin Hagler, der als ,The War' vermarktet wurde … da haben wir bei der Pressekonferenz alle einen Stahlhelm gekriegt [44]. Seit dem Kampf zwischen Jack Johnson und James Jeffries 1910 wird auch regelmäßig der Titel ,Kampf des Jahrhunderts' bis heute regelmäßig in Umlauf gebracht [45]. Immer wieder wurden auch soziale oder ethnische Unterschiede der Kontrahenten bewusst benutzt, um ihre sportlichen Vergleiche zu symbolhaften Prestigeduellen zwischen zwei Rassen, zwei Klassen, zwei Kulturen, Ost und West, Amerika und Nazi-Deutschland, Alter und Neuer Welt, hochzustilisieren. Auch sich über viele Jahre hinziehende Duelle zwischen zwei Athleten mit Herausforderung und Gegenherausforderung wurden publikumswirksam inszeniert, so wurde z.B. der Kampf zwischen den Töchtern von Muhammad Ali und Joe Frazier - Laila und Jaqueline - im Sommer 2001 kurzerhand als Ali vs Frazier IV bezeichnet.
Die Amerikanische Profiboxerin Ann Wolfe, die in letzter Zeit Mühe hatte, Gegnerinnen zu finden, die ihrer ungezügelten Kraft die Stirn bieten wollten, musste lange Zeit auf die Gelegenheit warten, aber mit dem Kampf gegen Bo Skipper am 2. Dezember 2005 gab es endlich auch einen ,battle of sexes', der in einer landesweiten live-Übertragung tausende Amerikaner vor die Fernsehschirme lockte [46].
Genauso wichtig wie publikumswirksame Aufmachung und schrille Einlagen sind die klingenden Namen wie ,Thunder', ,Tiger', ,Lights Out', ,Prince' oder ,The Executioner'.
Gerade im Boxsport finden auch immer wieder absolute ,bad guys', die bewusst ihr Image als rohe ungebändigte Schlächter pflegen, begeisterte Anhänger, und nichts findet mehr Anerkennung, als wenn man als Unterlegener oder schon schwer Angeschlagener mit gebrochenem Unterkiefer oder blutüberströmtem Gesicht sich weiterhin den Angriffen des Gegners aussetzt. Eine Aufgabe kann zur lebenslangen Missachtung bei den Fans führen.
Dass der Slogan er muss mich töten, wenn er mich besiegen will [47] so alt ist wie der Faustkampf selbst, zeigt die weiter oben angeführte Grabinschrift des ,Kamel' aus Alexandria, oder die antiken Lobeshymnen auf Faustkämpfer, die einfach länger als der Gegner Schläge einstecken konnten, ohne umzufallen (Abb. 11).
Aussagen wie von Schwergewichtsweltmeister Mike Tyson Ich will meinem Gegner das Nasenbein ins Gehirn treiben [48], oder seinem Coach Du musst nur kräftig punchen, dann fällt der Gegner irgendwann von alleine um [49], die dann von den Kritikern der Gewaltbereitschaft im Boxsport als warnende Beispiele zitiert werden, tragen zum gewaltbetonten Grundtenor der Faustkämpfe bei. Kein Wunder, dass sich Sigi Bergmann an Vorkommnisse wie diese erinnern kann: Einmal haben wir Mike Tyson gegen Michael Spinks übertragen. Wir waren schon eine Dreiviertelstunde auf Sendung, und es ist niemand gekommen! Es hat sich dann herausgestellt: Der Tyson hat erfahren, dass spioniert wurde, und daraufhin hat er einen Sparringpartner so zusammengeschlagen, dass der einen Jochbeinbruch und einen Kieferbruch hatte. In der Kabine hat er dann noch drei Zwischenwände niedergerissen. Und der Michael Spinks hat gesagt, ich brauch kein Geld, ich will überleben - und wollte nicht rauskommen. Man hat ihn schließlich doch noch überredet, und der Kampf hat dann achtzig Sekunden gedauert. Also, diese Urgewalten, die da freigesetzt werden, sind ja pervers. So ein Schlag ist für unsereins tödlich. Und wenn wir uns hintereinander stellen, bringt er uns mit einem Schlag beide um. [50]
,Psychische Hiebe' in Form von Schmähreden, Beteuerungen des eigenen Selbstvertrauens und der eigenen Überlegenheit und Drohungen, die dann im Ring allerdings selten wahrgemacht werden (können), gehören allerdings seit altersher zu den Ritualen eines Boxkampfes und der Meister des ,Psychokrieges' und der bissigen Sprüche, Muhammad Ali war überzeugt: Um ein großer Champion zu werden, musst du daran glauben, dass du der Beste bist. Wenn du's nicht bist - tu einfach so. [51]
Je wichtiger ein Wettkampf ist, und je näher eine Niederlage in ihm heranrückt, desto eher lassen sich die Kämpfer zu aggressiven, vielleicht sogar regelwidrigen Aktionen hinreißen. Je mehr sie selbst unterlegen sind und schmerzhafte Schläge einstecken mussten, desto größer ist der ungezügelte Hass auf den Gegner und die Hemmschwelle sinkt. Wer kann sich nicht an den Evander Holyfield sportlich auch im Rückkampf hoffnungslos unterlegenen Mike Tyson erinnern, der seinem Gegner ein Stück des Ohres abbiss [52] (Abb. 12)? Was sich immerhin in Form von angeknabberten Schokoohren vermarkten ließ …

Erfolgsdruck lastet aber nicht nur auf den Boxern, sondern auch auf den Trainern, den Funktionären, Sponsoren und nicht zuletzt auch auf dem Publikum, das emotionell und finanziell (Eintrittsgelder, Wetten) in diesen ,Spitzenfight' investiert hat. Und je verzweifelter sie den Sieg herbeisehnen, desto eher werden auch brutale Vorgehensweisen akzeptiert - unter Druck heiligt der Erfolg die Mittel [53].
Schwergewichtsweltmeister Henry Maske ist jedoch überzeugt, dass das Publikum immer auch wegen des Blutes und der Aggressivität kommt [54] und sein Kollege Dariusz Michalczewski stimmt dem zu, indem er meint: Die Leute wollen nach wie vor das klassische K.o. im Ring sehen, genauso wie sie zur Formel 1 gehen, um Unfälle mitzuerleben. [55]
Für die Boxer bedeutet das allerdings Belastungen bis an den Rand des Ertragbaren und auch Muhammad Ali sprach von seinem 3. Kampf gegen Joe Frazier als einer Erfahrung, die von allem was er erlebt hatte, dem Tod am nächsten kam [56].
Manchmal kommen Boxer dem Tod nicht nur nahe, sondern sterben an den Folgen der im Ring erlittenen Verletzungen. Benny ,Kid' Paret verspottete seinen Gegner Emile Griffith während des dem WM-Kampf 1962 um einige Stunden vorausgehenden obligatorischen ,weigh-in' als Homosexuellen, was diesen so in Rage versetzte, dass er am Abend Paret so mit schweren Treffern eindeckte, dass dieser in der 12. Runde in ein schließlich tödliches Koma fiel [57]. Und erst kürzlich fachte der Tod der Boxerin Becky Zerlentes nach einem Niederschlag im April 2005 die Diskussion um die Unvertretbarkeit des Boxsports wieder einmal an.
In jedem Fall geht für die Boxer der Kampf auch nach der letzten Runde noch weiter, wenn die Euphorie abnimmt und die Treffer ihre Langzeitwirkung entfalten. Nicht nur Weltmeister Jake Lamotta (Abb. 13) kann nach seinem Kampf mit Nate Bolden sagen: Mein Gesicht sah aus wie ein Stück Leber, das beim Fleischer auf einen Klotz gelegt und mit dem Holzhammer bearbeitet worden ist. [58]
Aber auch Auswüchse wie die sog. ,Free Fights' tragen dazu bei, den Boxsport als brutales Abreagieren von aufgeheizten Primitiven dastehen zu lassen. ,Free Fights' sind Kämpfe ohne jegliche Regeln, in denen Kämpfer aus unterschiedlichsten Kampfsportarten oder Hinterhöfen ihre Kräfte messen. Der unangetastete Champion eines ,Fight-Clubs' in Lübeck, in dem bis zu 500 Zusehern Hummer und Champagner gereicht wird, während Stripperinnen sich zwischen den Tischen ihrer Kleidung entledigen - und die Kämpfer in einem Maschendrahtkäfig sich ihrer Gesichtszüge -, ist übrigens ein Ex-Nahkampfspezialist der DDR [59].
In kaum einer anderen Sportart trifft wie beim Boxen der Leitsatz zu: Je mehr Spannung, Dramatik und Sensation geboten wird, desto mehr Zuschauer und desto mehr Geld! [60] Unglaubliche Geldsummen (hunderte Millionen Dollar [61]) sind in einem einzigen Kampfabend involviert und Vereine, Trainer, Verbände, Funktionäre, Veranstalter, Casino- und Hotelbesitzer, Wettbüros, Fernsehsender, Berichterstatter und viele mehr versuchen soviel an Profit wie möglich herauszuschlagen. Was dem Kämpfer selbst schlussendlich bleibt, ist nur ein Bruchteil davon. Trotzdem war der Boxsport für die oft aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammenden Boxer immer schon ein Anreiz den Sprung ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu schaffen, in der Gesellschaft aufzusteigen und finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen, besonders seit den ,roaring twenties' [62]; die brachten im wirtschaftlich aufstrebenden Amerika dem Sport neuen Aufschwung und die Wettkämpfe gerieten zu Kassenschlagern. Der Fight zwischen dem Amerikaner Jack Dempsey, dem Volksheld und ersten Großverdiener im modernen Profiboxen, und dem Franzosen Georges Carpentier zog am 23. Juli 1921 mehr als 80.000 Zuschauer, darunter 700 Zeitungsreporter auf die ,Boyle's Thirty Acres' bei New Jersey City [63].
Aber auch heute ist der ,Mythos Boxen' lebendig wie eh und je und die Begeisterung der Fans für ihre Helden ungebrochen. Plötzlich war der Ring wie von Menschen überflutet, erinnert sich Max Schmeling an die Minuten nach seinem k.o.-Sieg über Joe Louis im New Yorker Yankee Stadium: Einige aus der stolpernden, schreienden Menge griffen nach mir, als wollten sie mich nur irgendwo berühren, andere rissen mir die Bandagen fetzenweise von den Fäusten als seien sie Reliquien. [64]
Die durch die Vorkämpfe angeheizten Emotionen der Zuseher entladen sich erstmals beim sog. ,walk-in' der beiden Hauptkontrahenten des Abends. Für den ,walk-in' gilt mittlerweile die dehnbare Regel: ,anything goes' [65]. Zu berauschenden leitmotivischen Hymnen wie ,Simply The Best', ,Bad To The Bone' oder ,Eye Of The Tiger' und Lichteffekten kommen die durch ihren Kampfmantel halb verdeckten Boxer im Pulk ihrer vielköpfigen Entourage die schmalen Gänge zum Ring heran. Dabei können auch schon mal ein Pferd, ein Motorrad oder - wenn man den Kampftitel ,Prince' trägt, eine Sänfte verwendet werden, oder man lässt sich als ,Tiger' Michalczewski vom Dach der Halle in einem Raubtierkäfig herab. Konträr zu diesen aufwendigen und die Masse euphorisierenden Inszenierungen behaupten viele Boxer, all das erreiche sie in ihrem ,Tunnel der Konzentration' gar nicht mehr. Andere glauben, dass sie das Adrenalin in ihren Adern pochen spüren, und fühlen sich, wie es der ehemalige Supermittelgewichtschampion Nigel Benn einmal formulierte, als Spartakus, der in die Arena geht, um bis zum Tode zu kämpfen [66], womit sich der Kreis zum Kampfsport in der Antike wieder schließt.

Die Auflösung der Kurzzitate entnehmen Sie bitte der Bibliographie.
[1] Abbildungen s. z.B. in W. Decker, Sport und Spiel im Alten Ägypten (1987); W. Decker - M. Herb (Hrsg.), Bildatlas zum Sport im alten Ägypten, Bd. 2 (1994).
[2] Vgl. Poliakoff 1989 (passim). Als Münzbeispiele verweise ich etwa auf Statere aus Aspendos mit einem Ringerpaar am Avers, 5./4. Jh.: KHM Wien, Münzkabinett Inv.Nr. 18745. 18752).
[3] Kaltsas 2004, 104ff.
[4] H. Schwarz in: M. Gutgesell (Hrsg.), Olympia. Geld und Sport in der Antike. Kat. zur Ausstellung in Hannover 19. August - 14. November 2004 (2004) 49.
[5] Plut. Perikles 8.
[6] J. Jüthner, Philostratos. Über Gymnastik (1909, ND 1969) 26ff.
[7] Schwarz (Anm. 4) 49.
[8] Anth. Pal. 16, 24.
[9] Schwarz (Anm. 4) 50.
[10] I. Weiler, Der Sport bei den Völkern der Alten Welt (1981) 171.
[11] Poliakoff 1989, 52ff. mit Abb.
[12] Paus. VI 4, 1-3.
[13] Poliakoff 1989, 81.
[14] s. z.B. Poliakoff 1989, 81 Abb. 53.
[15] s. z.B. Poliakoff 1989, 84 Abb. 56.
[16] Poliakoff 1989, 83.
[17] Pind. I. 4, 48.
[18] Philostr. Im. 2. 6.
[19] Philostr. Im. 2. 6. - Vgl. Paus. VIII 40, 1-2.
[20] Vgl. Artemidorus 1, 62.
[21] Poliakoff 1989, 125.
[22] Athen, Nationalmusuem Inv.Nr. 6439; B.S. Ridgway, Fourth-Century Style in Greek Sculpture (1997) 345; W. Geominy in: Sportschau 2004, 220-222.
[23] Paus. VI 4, 5.
[24] Poliakoff 1989, 111 Abb. 81. 82.
[25] Paus. VI 12, 6.
[26] Poliakoff 1989, 114.
[27] Vgl. J.-P. Thuillier, Sport im antiken Rom (1999) 152.
[28] Thuillier a.O. 150.
[29] Rom, Museo Nazionale Romano 1055; s. Geominy (Anm. 22) 103-105.
[30] Thuillier a.O. 151.
[31] Thuillier a.O. 151; zum Gedicht s. z.B. Sinn 1996, 102.
[32] Suet. Aug. 45, 2 nennt drei Arten von Faustkämpfern: die griechischen und zwei Arten von lateinischen Boxern, nämlich solche die nach Regeln kämpften und die catervarii, die wild und ohne Technik in den Straßen und Gassen boxten. - s. Ch. Mann, Griechischer Sport und römische Identität, Nikephoros 15, 2002, 125ff.
[33] B. Job, Boxen (2003) 6.
[34] Job a.O. 400.
[35] H. Amman, Darstellung und Erklärungsversuch aggressiver Handlungen in ausgewählten Hochleistungssportarten (ungedruckte Diplomarbeit, Univ. Innsbruck, 1999) 27.
[36] Zum modernen Frauenboxsport s. im Text weiter unten.
[37] DER SPIEGEL, Nr. 14/18. 3. 1996, S. 257. - Zitat nach Amman (Anm. 32) 17.
[38] Zitat aus Job (Anm. 33) 16.
[39] Freizeit, H. Nr. 824, 24. 9. 2005.
[40] W. Kralicek, "Ich denke an Tanz", Falter Nr. 33/2002 (http://www.falter.at/print/F2002_33_1.php).
[41] Zitat nach Amman (Anm. 35) 17.
[42] s. dazu Job (Anm. 33) 386.
[43] Job (Anm. 33) 16.
[44] Vgl. Kralicek (Anm. 40).
[45] Job (Anm. 33) 196.
[46] Kurier, 22. 10. 2005, S. 31.
[47] Job (Anm. 33) 19.
[48] DER SPIEGEL, Nr. 6 vom 6. 2. 1995, S. 161. - Zitat nach Amman (Anm. 35) 17.
[49] BOXSPORT, Nr. 13/1997, S. 3.
[50] Kralicek a. O. (Anm. 40).
[51] Job (Anm. 33) 13.
[52] Amman (Anm. 35) 54. s. auch http://news.bbe.co.uk/sport1/low/boxing/1636676.stm
[53] Amman (Anm. 35) 53.
[54] DER SPIEGEL, Nr. 4 vom 23. 1. 1995, S. 148. - Zitat aus Amman (Anm. 35) 56.
[55] DER SPIEGEL, Nr. 14 vom 18. 3. 1996, S. 257. - Zitat nach Amman (Anm. 35) 56.
[56] Zitat nach Job (Anm. 33) 390.
[57] Job (Anm. 33) 199.
[58] Zitat nach Job (Anm. 33) 391.
[59] Kurier, 30. 4. 2006, S. 39.
[60] Amman (Anm. 35) 55.
[61] Amman (Anm. 35) 43.
[62] Job (Anm. 33) 88.
[63] A. Rauch, Boxe, violence du XXème siècle (1992) 131.
[64] Zitat nach Job (Anm. 33) 210.
[65] Job (Anm. 33) 200.
[66] Ebenda.

© Agnes Nordmeyer
e-mail: agnesnordmeyer@hotmail.com

This article should be cited like this: A. Nordmeyer, Kampfsportarten im Wandel der Zeiten, Forum Archaeologiae 42/III/2007 (http://farch.net).



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