Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 26 / III / 2003

VON KARTHAGO ZUM SPIEGELGRUND

Dieser Titel eines Beitrages im neuen "Fundort Wien 5" umreißt am besten den Inhalt des Bandes. Ist es nicht gerade Karthago, worum sich die stadtarchäologische Forschung bemüht, so reichen die Artikel von den ältesten Nachweisen menschlicher Siedlungstätigkeit auf dem Wiener Stadtgebiet bis hin zu einer archäologischen Untersuchung auf dem Gelände der ehemaligen NS-"Euthanasie"-Klinik "Am Spiegelgrund".


Von Mammutfunden in Wien wissen viele, nicht zuletzt, da auch die Bezeichnung des "Riesentores" von St. Stephan (Abb. 1) gerne mit einem solchen in Verbindung gebracht wird. Dass es aber immerhin 45 Fundstellen in Wien gibt, macht erst eine Zusammenstellung aus Museumsbeständen und alten Fundprotokollen deutlich. Das Umfeld des Mammuts, sein Aussehen, seine Ernährung und nicht zuletzt das Auffinden von "Riesengebeinen" als Grundlage von Sagen und volkstümlicher Deutung werden behandelt. Die Bezeichnung von Mammutfunden als eine Art von Ratten, die in der Erde leben und sterben, wenn sie Luft berühren oder Sonnenlicht auf sie trifft (Ende 17./Anfang 18.Jh.), birgt für den Leser einen humoristischen Aspekt und ist doch kulturhistorisch nicht unbedeutend.
Mit der Frage nach der Datierbarkeit von archäozoologischen Funden setzt sich eine Mitarbeiterin der Stadtarchäologie Wien auseinander und sie begibt sich damit auf bisher nur wenig erforschtes Terrain. Die Aussagekraft von ergrabenen Tierknochen wird seitens der Archäologen meist unterschätzt, doch zeigt dieser Beitrag unter welchen Bedingungen Informationen gewonnen werden können. Bestimmte Tierarten, der Erhaltungszustand, Bearbeitungsspuren auf den Knochen und morphologische Faktoren können zu einer zeitlichen Eingrenzung eines Befundes ebenso viel beitragen, wie z.B. Keramik. Die archäozoologischen Untersuchungen können, wie im Fall einer Grabung im 11.Wiener Gemeindebezirk erläutert wird, auch soweit gehen, dass auf eine Divergenz zwischen Keramik- und Knochendatierung hingewiesen werden muss.
Dem Siedlungsraum Wien widmen sich im vorliegenden Band zwei Artikel:
Eine Analyse der Anzahl und der Verteilung von Fundstellen gibt einen Überblick über die urgeschichtliche Besiedlung des unteren Liesingtales (10.Bezirk). Der Raum Oberlaa/Unterlaa war ab dem Neolithikum besiedelt und die Autoren verfolgen die Verschiebungen im Siedlungsverhalten über 5000 Jahre, bis in die späte Eisenzeit. Ein langer Zeitraum, in dem u.a. klimatische Voraussetzungen ausschlaggebend waren für die unterschiedliche Nutzung des Geländes. In erster Linie bestätigen die Ergebnisse das bereits bekannte Siedlungsbild einzelner Zeitstellungen, in der Folge können sie aber als Basis für spätere systematische Untersuchungen in diesem Raum dienen, wodurch auch feinchronologische Aussagen zur Besiedlungsentwicklung möglich werden.
Funde aus dem 3.Wiener Gemeindebezirk ermöglichen einen Einblick in die spätkeltisch-frührömische Siedlungsentwicklung. Akribisch wurden Fundorte und Funde (Münzen, Keramik, Metall) aus großteils alten Grabungsdokumentationen (Abb. 2) - vom Anfang des 20.Jh. - recherchiert, um eine der wichtigsten Fragen in der Wiener Stadtgeschichtsforschung zu klären. Ließ sich auch die Vermutung eines Weiterbestehens keltischer Siedlungen im 1.Jh. n.Chr. nicht verifizieren, so lag das in erster Linie an Informationslücken, die Grabungsdokumentationen aus der Frühzeit der archäologischen Forschung in Wien beinhalten sowie am momentanen Wissensstand zur chronologischen Eingliederung von Kleinfunden. Aus der Untersuchung wird aber einmal mehr deutlich, wie wichtig die Aufarbeitung alter Dokumentationen für das wissenschaftliche Weiterkommen ist. Anhand mehrerer Beiträge zum Legionslager von Vindobona wurde das in den vergangenen Bänden von "Fundort Wien" auch schon bewiesen. Diesmal wird in Zusammenhang mit Überlegungen zu einem Altfund - der Grabstele des Caius Atius, einem Soldaten der in Vindobona stationierten 15.Legion - die Vermutung geäußert, dass schon zu Beginn des 1.Jh. n.Chr. ein Legionslager in Vindobona bestand. In Verbindung mit der Befund- und Fundsituation ist es legitim, in tiberischer Zeit das Holz-Erde-Lager der legio XV Apollinaris in Vindobona zu suchen, eine Legion deren Geschichte inzwischen sehr detailliert nachvollzogen werden kann und vom Autor in Kürze als Monographie vorgelegt wird (M. Mosser, Die Steindenkmäler der legio XV Apollinaris, Wiener Archäologische Studien 5 [2003]).
Im Anschluss an die Vorlage römischer Hohlgläser (Fundort Wien 4 [2001]) ist im vorliegenden Band ein Beitrag den römerzeitlichen Glasobjekten aus Vindobona gewidmet. Dabei handelt es sich vorwiegend um Schmuck (Perlen - Abb. 3, Ringe, Armreifen). Durch die intensive Beschäftigung mit römischen Glasprodukten in Wien kristallisiert sich mehr und mehr die Vermutung von ansässigen Glas erzeugenden Werkstätten heraus. Trotzdem der archäologische Befund dafür noch aussteht, zeugen Halbfabrikate und Abfallprodukte von deren Richtigkeit.
Ein Beitrag zu mittelalterlichem und neuzeitlichem Glas macht u.a. deutlich, welchem Wandel gläsernes Tischgeschirr in Wien unterworfen war. Die durch Handel mit Südwestdeutschland, der Nordschweiz und ab dem 15.Jh. auch mit Böhmen nach Wien transportierten Gläser spiegeln sehr gut den Zeitgeschmack. Renaissancezeitliches und barockes Tafelglas zeigt starke italienische Einflüsse. Entgegen früherer Vermutungen, die Importe aus Venedig anführten, dürften diese Produkte aus heimischen Produktionen stammen (Abb. 4).
Ein keramisches Aquamanile in Form eines Igels (Abb. 5), aus der Latrine im sog. Augustinerturm, ist Zeugnis gehobener mittelalterlicher Tischkultur. Auffallend ist das gewählte Motiv: Denn beim Igel handelt es sich um ein im Mittelalter eher mit negativem Nimbus belegtes Tier. Bemerkenswert ist auch der Fundort im Bereich des ehemaligen Augustinereremitenklosters in Wien, da diese Formen großteils im profanen Bereich und nur selten in kirchlich-klösterlichen Zusammenhängen vorkommen.
Die "Virgilkapelle" beim Stephansdom gehört zu den wohl bekanntesten baulichen Objekten, die archäologische Untersuchungen während der letzten 30 Jahre in Wien zu Tage gefördert haben. Nun liegt auch eine Analyse zur Ausstattung dieses mittelalterlichen, unterirdischen Raumes vor. Neue computergestützter Rekonstruktionen ermöglichen es, Klarheit hinsichtlich der Zugänge, der Beleuchtung und der Ausstattung dieses unterirdischen Nischenraumes zu schaffen.
Eine weitere Bauanalyse ist dem letzten barocken Glashaus (Abb. 6) in Wien gewidmet. So sehr dieser Bautyp auch jedermann vertraut ist, so wissen nur wenige über dessen Entwicklung und die Gründe bautechnischer Details Bescheid. Umso bedauerlicher ist es, dass mit dem Abriss des Glashauses beim Miller-Aichholz Schlössel in Hütteldorf das letzte Glashaus dieser Zeit vernichtet wurde.


Mit dem letzten Beitrag wird eine noch relativ junge Aufgabe der Archäologie, die Unterstützung zur Vergangenheitsbewältigung, behandelt.
Auf dem Anstaltsgelände des heute als "Baumgartner Höhe" bekannten Psychiatrischen Krankenhauses in Wien (14.Bezirk) existierte von 1940 bis 1945 unter der Bezeichnung "Am Spiegelgrund" eine so genannte "Kinderfachabteilung", in der rund 800 kranke oder behinderte Kinder und Jugendliche umkamen.
Während der NS-"Euthanasie" in den letzten Jahren zunehmend Platz in den Medien eingeräumt wurde, blieb den überlebenden Opfern die öffentliche Anerkennung weitgehend verwehrt. Als "Schwererziehbare" und "Deppen" stigmatisiert fanden sie kaum öffentliches Gehör. Mit ein Grund dafür sind auch immer wieder geäußerte Zweifel an der Richtigkeit von Kindheitserinnerungen; Zweifel, die auch die Opfer selbst hegen.
Die Untersuchung in der Nähe der Kirche Am Steinhof zeigt, mit welch geringem Aufwand und einem aus archäologischer Sicht unspektakulären Befund ein Beitrag zur Aufarbeitung der jüngeren Geschichte geleistet werden kann. In diesem Fall wurde einem Überlebenden seine Verlässlichkeit als Zeitzeuge bestätigt und das Interesse und die Diskussionsbereitschaft vieler gestärkt.

Fundort Wien 5/2002. Berichte zur Archäologie
Aufsätze:
Norbert Vávra, Eine Elephantenart, dieselbe, welche man das Mammuth zu nennen pflegt, ...
Sigrid Czeika, Über die Datierbarkeit archäozoologischer Funde - Fallbeispiel Csokorgasse.
Volker Lindinger/Elisabeth Pichler, Beitrag zur Erforschung eines urgeschichtlichen Siedlungsraumes im unteren Liesingtal.
Bertram Samonig, Urgeschichtliche Funde aus Wien 10 - Unterlaa.
Patrizia Donat/Elisabeth Pichler/Helga Sedlmayer, Aspekte spätkeltischer und frührömischer Siedlungsentwicklung in Wien-Landstraße.
Martin Mosser, C. Atius und die legio XV Apollinaris in Vindobona.
Martin Mosser, Die Architektur boischer Grabbauten zwischen Wienerwald und Leithagebirge.
Sylvia Sakl-Oberthaler/Kinga Tarcsay, Römerzeitliche Glasobjekte aus Wien. Gabriele Scharrer, Ein Aquamanile aus der Latrine im so genannten Augustinerturm in Wien.
Kinga Tarcsay, Neue Erkenntnisse zum Spektrum des mittelalterlichen und neuzeitlichen Glases in Wien.
Michaela Müller, Eine neuzeitliche Grube in Wien 3, Barmherzigengasse 17. Alice Kaltenberger, Frühneuzeitliches Fundmaterial aus Wien 3, Barmherzigengasse 17.
Sigrid Czeika, Tierknochenfunde aus Wien 3, Barmherzigengasse 17.
Barbara Schedl, ... die Chapellen die da leit in sant Stephans Vreythof ... Zu Ausstattung und Wirkung des unterirdischen Nischenraumes.
Thomas Baumgartner, Das letzte barocke Glashaus Wiens.
Ute Hofmeister, Von Karthago zum Spiegelgrund - Archäologie im Dienste der "Vergangenheitsbewältigung".

FWien 5/2002
ISBN 3-902086-08-4, ISSN 1561-4891
Einzelpreis: EUR 34,-/Abonnement-Preis: EUR 25,60
Schriftentausch per E-Mail: gru@gku.magwien.gv.at
Auslieferung/Vertrieb: Phoibos Verlag, Anzengrubergasse 19/14, A-1050 Wien, E-Mail: phoibos@eunet.at
© Forschungsgesellschaft Wiener Stadtarchäologie http://www.archaeologie-wien.at

© Forschungsgesellschaft Wiener Stadtarchäologie
e-mail: gru@gku.magwien.gv.at


This article will be quoted by Forschungsgesellschaft Wiener Stadtarchäologie, Von Karthago zum Spiegelgrund, Forum Archaeologiae 26/III/2003 (http://farch.net).



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