Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 26 / III / 2003

DER SOG. 'TOILET ROOM' IM PALAST VON KNOSSOS*

Arthur Evans prägte den Begriff der ‚minoischen Latrine'. Als er im Ostflügel des Palastes von Knossos im sog. ‚Domestic Quarter' einen ca. 2,2m x 1,2m kleinen Raum freilegte, der über eine Aussparung im Boden mit einem unterirdischen Kanalnetz (Abb. 1) verbunden war, bestand für ihn kein Zweifel, daß es sich dabei um eine Latrine handelte [1].

Eine vertikale, ca. 0,52m lange, kantige Rille an der südlichen Seitenwand war seiner Meinung nach die Einlassungsspur für eine Sitzkonstruktion über der Abflußöffnung [2]. Er rekonstruierte ein hochkant gestelltes Brett, das in beiden Seitenwänden verankert war, und ein weiteres horizontales, auf das man sich setzte und das von dem anderen Brett gestützt wurde (Abb. 2).
Evans' Beschreibung und Rekonstruktion erscheint zunächst recht einleuchtend: Der Raum war unmittelbar an ein größeres Kanalnetz angeschlossen, seine Wände und der Boden waren mit Steinplatten ausgekleidet [3]. In seiner Nähe befand sich ein Lichthof, der für Frischluftzufuhr sorgte. Der Raum lag abgeschieden im hinteren Bereich des ‚Domestic Quarter' und war außerdem nicht sehr groß. Beim Verrichten der Notdurft setzte man sich auf das Brett und spülte anschließend mit einer Wasserkanne nach.
Nun resultieren aber die meisten dieser Argumente aus unseren eigenen Erfahrungen. Wie können wir also wissen, ob man in der ägäischen Bronzezeit beim Verrichten der Notdurft gesessen hat? Ob man überhaupt einen abgeschiedenen Raum und gute Durchlüftung benötigte?
Ein unanfechtbares Argument für die Latrine ist die Abflußvorrichtung. Allerdings erstreckte sich der Kanal über eine große Distanz, bis er sich im Freien entleerte. Daraus ergibt sich eine weitere Schwierigkeit: Der Kanal, der nicht nur das ‚Domestic Quarter', sondern vermutlich auch teilweise den westlich davon gelegenen Zentralhof entwässerte [4], war an regenreichen Herbst- und Wintertagen gut durchspült, doch wie verhielt es sich im Sommer?
Aus Evans' Beschreibung ist auch nicht ersichtlich, wie man sich die Rekonstruktion des Holzsitzes genau vorzustellen hat: Die Rille an der südlichen Wand, in die das Holzbrett eingelassen gewesen sein soll, reichte nicht ganz bis zum Boden, sondern begann ca. 5cm darüber (Abb. 3). Wären Stützen in dem darunter befindlichen Bereich genügend stabil gewesen, wie Evans es vermutete [5], müßten auch an der Rückwand welche gestanden haben. Auf diese gibt er allerdings keine Hinweise. Im Gegenteil: Geht man von der Richtigkeit des Schnittplanes von Evans aus (Abb. 2), in der sich die Rückwand der Latrine unterhalb des Bodenniveaus ins Rauminnere wölbt, hätten die hinteren Stützen darauf keinen sicheren Halt gehabt.
In diesem Falle wäre eine weitere, horizontale Einlassung in den Seitenwänden für das Sitzbrett notwendig gewesen.
Eine Benutzung der Latrine ohne Sitz ist auch schwer vorstellbar, da man beim Hocken hierbei leicht den Halt verliert.
Neu aufgenommene Untersuchungen des Kanalnetzes im ‚Domestic Quarter' durch J. Driessen und C. MacDonald führten zu dem Ergebnis, daß die Latrine im Zuge eines Umbaues während der jüngeren Palastzeit zu Beginn des 16. Jahrhunderts v.Chr. entstand [6]. Der Kanal existierte bereits, als man die zwei mittleren Türpfosten der durchgehenden Türwand im ‚Room of the Plaster Bench' bis zur Ostwand verlängerte und den Boden mit Gipssteinplatten auslegte. Der Grund, weshalb die ursprüngliche Halle, die auch als Verteilerraum fungierte, zugunsten einer Abflußanlage aufgegeben wurde, ist unklar. Bauliche Umgestaltungen von minoischen Hallen während der neupalatialen Zeit im 17. und 16. Jahrhundert v.Chr. waren keine Seltenheit. Genutzt wurden die neuen, meist geteilten Flächen vorwiegend für praktische Zwecke. Die einstige Gestaltungsmöglichkeit des Raumes, den man durch eine Türwand vergrößern bzw. verkleinern konnte, ging dadurch verloren [7]. Kann diese allgemeine Beobachtung auch für unser Beispiel zutreffen [8]?
Zusammenfassend betrachtet gibt es zu viele Unklarheiten in den Grabungsberichten und zu wenige Indizien für eine Latrine in diesem Bereich. Es könnte sich um einen nicht spezifisch benützten Raum gehandelt haben, dessen Abfluß mit einem vertikalen Gitter abgeschirmt war, das als Sichtblende bzw. als Sicherungsmaßnahme der Öffnung diente [9]. Der Raum könnte demzufolge nicht nur praktisch genutzt worden sein, sondern er könnte auch eine rituelle Funktion gehabt haben. Einen Hinweis darauf könnten talismanische Siegeldarstellungen geben, auf denen jeweils eine Libationskanne hinter bzw. auf einem Gitter abgebildet ist [10].

[*] Dem vorliegenden Artikel liegt meine Diplomarbeit zugrunde: M. von Aufschnaiter, Minoische Latrinen. Untersuchungen zu sanitären Räumen in minoischen Gebäuden auf Kreta und auf den ägäischen Inseln (unpubl. Dipl. Wien 2002). Mein herzlicher Dank richtet sich an Birgit Malenda für die Durchsicht dieses Artikels.
[1] A. Evans, Knossos Excavations 1902, BSA 8, 1901-02, 86.
[2] Ders., The Palace of Minos at Knossos I (1921) 228f. 333f.
[3] Es handelte sich dabei um Alabasterplatten, die auch für den Kanal eingesetzt worden sind; C. MacDonald - J. Driessen, The Drainage System in the Palace of Knossos, BSA 83, 1988, 256 sind davon überzeugt, daß man in der minoischen Zeit bereits zwischen wasserresistenten Gipssteinarten unterscheiden konnte.
[4] MacDonald - Driessen a. O. 254.
[5] A. Evans, BSA 8, 1901-02, 86. "...there seems to have been a wooden seat at the back of the compartment, apparently with a stone foot-rest in front of it like that on which the throne stands."; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Rekonstruktion des Holzthrones in der 'Royal Villa': ders., The Palace of Minos at Knossos II (1928) 405 Abb. 234.
[6] C. MacDonald - J. Driessen, The Troubled Island. Minoan Crete before and after the Santorini Eruption, Aegaeum 17, 1997, 146. Die absolute Datierung richtet sich nach der sog. traditionellen Chronologie. Zur Schwierigkeit der absoluten Datierung der jüngeren Palastzeit in Kreta s. P. Warren - V. Hankey, Aegean Bronze Age Chronology (1989)
[7] Vgl. J. Driessen - J. Sakellarakis, The Vathypetro-Complex, in: R. Hägg (Hrsg.), The Function of the "Minoan Villa". Proceedings of the Seventh International Symposium at the Swedish Institute at Athens (1997) 77, die hinsichtlich einer ähnlichen Situation im ‚West Building' von Vathypetro vermuten, daß der Ausbruch von Thera eine Nahrungsknappheit verursachte und daß man daher auch ehemalige Repräsentationsräume wirtschaftlich nutzte.
[8] Ein ähnliches Beispiel einer Abflußöffnung zwischen zwei Türpfosten in einer minoischen Halle ist in der ‚Villa A' in Agia Triada, Raum [13], anzutreffen, F. Halbherr - E. Stefani - L. Banti, Hagia Triada nel Periodo Tardo Palaziale, ASAtene N.S. 39, 1977, 86f.
[9] J. Driessen und C. MacDonald hegten Zweifel an Evans' Deutung, da ihrer Meinung nach die Leitung zu wenig abschüssig war, um Exkremente bis ins Freie zu befördern. Sie vermuteten vielmehr einen Baderaum, der vielleicht in Zusammenhang mit den Vorbereitungen für eine Zeremonie gestanden haben könnte, C. MacDonald - J. Driessen, BSA 83, 1988, 246. 252f. Eine Vorrichtung für das Ausschütten von Haushaltswasser oder Flüssigkeiten kultischer Aktivitäten, einen Baderaum für rituelle oder praktische Körperpflege bzw. einen Vorbereitungsraum für Priester vermutet L.A. Hitchcock, The Minoan Hall System: Writing the present out of the past, in: M. Locock, Meaningful Architecture: Social interpretations of Buildings (1994) 38, dies. SIMA 155 (2000) 168. Als Kultraum oder Werkstatt, aber auf keinen Fall als Toilette interpretierte ihn A.-C. Nordfeldt in einer Diskussion, in R. Hägg (Hrsg.) a. O. 194.
[10] A. Evans, The Palace of Minos at Knossos IV (1935) 447 Abb. 370c; 448 Abb. 372a-c.

© Maja Aufschnaiter
e-mail:
maja.aufschnaiter@gmx.net

This article will be quoted by M. Aufschnaiter, Der sog. "toilet room" im Palast von Knossos, Forum Archaeologiae 26/III/2003 (http://farch.net).



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