Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 14 / III / 2000

VERSUCH EINER DATIERUNG ANHAND EINES "GESICHERTEN FUNDKONTEXTES" AM BEISPIEL DER PROPYLÄENKORE VON DER ATHENER AKROPOLIS

Kann man durch stilistische Vergleiche und typologische Reihungen chronologische Abfolgen relativ darstellen, so bedarf es außerstilistischer Kriterien bzw. absolut fixierter Punkte, um ein Objekt tatsächlich datieren zu können. Gerade in der ausgehenden Spätarchaik und Frühklassik scheinen genügend solcher Punkte vorhanden zu sein - so etwa die bei Thukydides überlieferten Gründungsdaten der unteritalisch-sizilischen Kolonien (Thuk. VI 3 ff.) [1], die Stiftung von columnae caelatae durch Kroisos an das Ältere Artemision von Ephesos kurz vor 546 v. Chr. (Hdt. I 92) [2], die Errichtung des Schatzhauses der Siphnier noch vor dem samischen Überfall auf ihre Insel 524 v. Chr. (Hdt. III 57) [3], die Bestattung der in der Schlacht von Marathon gefallenen Athener im Grabtumulus 490 v. Chr. (Hdt. VI 117) [4] und die Perserzerstörungen in den Jahren 490 bzw. 480/79 v. Chr. (Hdt. VIII 53, 2 u. IX 13, 2) [5]. Ob diese Punkte bei isolierter Betrachtung für jeden einzelnen Fundkontext dieses Zeitraumes als Datierungshilfe herangezogen werden können, soll am Beispiel der Propyläenkore von der Athener Akropolis durchgespielt werden.
Die entscheidende Frage in Bezug auf die Datierung dieser Kore ist dabei nicht so sehr das genaue Jahr, als die Bestimmung, ob sie vor oder nach 480 gefertigt und aufgestellt wurde. Falls man sie vor 480 datiert, dann fehlt ein direktes Vergleichsbeispiel, und es wäre belegt, dass sich die organische Darstellung unabhängig von den Perserkriegen entwickelte. Falls nach 480, dann wurde die Statue durch einen Unfall, Feuer, Natureinflüsse wie Erdbeben oder Stürme respektive von den Athenern selbst beschädigt. Inwieweit man nun die Propyläenkore zeitlich eingrenzen kann, zeigt die folgende kurze Analyse.
Sog. Propyläenkore
Standort: Athen, Akrop. Mus. 688
Maße: Höhe 51,50 cm [6]
Material: Pentelischer Marmor [7]
Beschreibung: Weibliche Statue, zusammengesetzt aus zwei Teilen (Kopf und Torso), in Chiton mit kurzem Überschlag, glatter Halsborte und fast bis zu den Knien reichendem Kolpos. Die ursprünglich eingesetzten Unterarme fehlen genauso wie die Beine ab der unteren Hälfte der Oberschenkel; Kinn und Nase sind leicht beschädigt. Am Überschlag befindet sich eine flach anliegende Mittelfalte mit einer seichten Längsfurche. Im Rücken fällt der Mantel bis zum Gesäß, wobei die Kante nach außen geschlagen ist. Der leicht nach rechts gedrehte Kopf ähnelt einem Kubus und sitzt auf einem sehr breiten Hals. Das Gesicht der Kore zeichnet sich durch nur wenig geöffnete Augen, sehr flache Brauen, eine schmale Nasenwurzel und volle Lippen aus. Im rötlichen, in der Mitte gescheitelten Haar trägt sie ein Diadem [8].

Abb. 1: sog. Propyläenkore, Akrop. Mus. 688 (Photo Verf.)

Abb. 2: Detail der geschwärzten Stelle, Akrop. Mus. 688 (Photo Verf.)

Der Fundkontext der sog. Propyläenkore, Akrop. Mus. 688 (Abb. 1) [9], ist keinesfalls eindeutig. Kopf und Körper, die offensichtlich zusammenpassen, wurden getrennt voneinander gefunden. Während das Funddatum des Torsos einheitlich mit 1889 angegeben wird [10], differieren die Angaben in Bezug auf den Kopf von "wahrscheinlich 1882" [11] bis 1885 [12]. Der Fundort des Torsos ist durch den Aufsatz von E. A. Gardner wiederum sehr genau dokumentiert, und zwar im Nordflügel der Propyläen, innerhalb der sog. Pinakothek [13]. Dorthin konnte er erst mit dem Baubeginn der neuen Propyläen des Mnesikles 438/37 v. Chr. gelangt sein [14]. Zum Fundort des Kopfes äußern sich im Wesentlichen nur G. Dickins und G. M. A. Richter [15]; er soll im Zuge der Ausgrabungen von P. Stamatakis im Bereich der Propyläen gefunden worden sein. Die Brandspuren an der Vorderseite der Statue (Abb. 2) werden gerne als Argument für eine vorpersische Entstehung der Propyläenkore herangezogen, wobei sie dann allgemein als die jüngste aller auf der Akropolis gefundenen Koren bezeichnet wird [16]. Aufgrund des ungewöhnlich fortschrittlichen Stils (weniger des Kopfes als des Torsos) datiert der überwiegende Teil der Forscher die Propyläenkore in nachpersische Zeit [17]. Brandspuren, die man gerne mit der Zerstörung der Akropolis durch die Perser 480/79 v. Chr. in Verbindung bringt, definieren ein Objekt jedoch keineswegs als vorpersisch. Die unmittelbare Brandeinwirkung auf diverse Bildwerke könnte zwar den Beweis erbringen, dass die Statuen vor der persischen Belagerung gefertigt und aufgestellt wurden, allerdings nur wenn es zwingend erwiesen wäre, dass es weder vor noch nach den Verwüstungen durch die Perser zu einer Brandkatastrophe auf der Athener Akropolis gekommen ist. Dieser Beweis wurde bis jetzt nicht erbracht.
Im gleichen Atemzug reichen stilistische Kriterien nicht aus, um eine fixe nachpersische Datierung zu rechtfertigen. Unternimmt man nämlich einen stilistischen Vergleich, so muss man die Propyläenkore im Bereich der sog. Euthydikoskore (Akrop. Mus. 686), die aus den Verfüllschichten östlich des Parthenon, also dem Perserschutt, stammt, ansiedeln [18]. Da es sich aber beim Perserschutt von der Athener Akropolis um keinen einheitlichen Zerstörungshorizont handelt, sondern um Aufräumungs- und Terrassierungsarbeiten [19], die im Zuge der kimonischen Erweiterung des Burgareals vorgenommen wurden, kann unsere Kore auf diese Weise nur mit Vorbehalt datiert werden. Diese Arbeiten wurden nämlich erst mit dem Sieg der Athener und ihrer Bündnispartner am Eurymedon (zwischen 468 u. 465 v. Chr. [20]) begonnen - erst durch die dort gewonnene große Beute standen ausreichend Mittel zur Verfügung, die immensen Aufwendungen für die Wiederherstellung der Akropolis bereitzustellen. Sie setzten sich schließlich bis in die 50er Jahre des 5. Jhs. fort. Dieser Umstand bedingt jedoch, dass mit Sicherheit auch nachpersisches Material in die Anschüttungen auf der Akropolis gelangte und somit vom terminus ante quem 480/79 v. Chr. für den Perserschutt von der Athener Akropolis in jedem Fall abzugehen ist.
Aus dem Fundkontext lässt sich somit nur eine sehr grobe zeitliche Eingrenzung vornehmen. Eine Datierung um 480 v. Chr., mit relativ großem Spielraum, ohne Festlegung auf vor- oder nachpersisch, erscheint eine zwar vorsichtige, aber wirklichkeitsnahe Einschätzung der Kore Akrop. Mus. 688 darzustellen [21]. Dass sich trotz der Möglichkeit eines indirekten Vergleichs mit einem Objekt aus einem scheinbar gesicherten Fundzusammenhang eine zeitliche Einordnung als nicht unproblematisch erweist, zeigt dieses Beispiel der Propyläenkore. Auch in einer Zeit mit sehr guter Quellenlage und vermeintlich zahlreichen fix datierbaren Ereignissen sollte man sich auf realistische Datierungen im Rahmen bis zu 30 Jahren besinnen.

[1] s. E. Sjöquist, Sicily and the Greeks (1973) 1-20; M. I. Finley, Das antike Sizilien (1979) 35-47; J. de la Genière, RA 1978, 257-276; J. Boardman, The Greeks Overseas3 (1980) 161-216; ders., Kolonien und Handel der Griechen (1981) 199-256.
[2] Vgl. U. Muss, Die Bauplastik des archaischen Artemisions von Ephesos, Soschr ÖAI 25 (1994) bes. 23 ff.
[3] s. H. Knell, Mythos und Polis. Bildprogramme griechischer Bauskulptur (1990) 24-38; G. Daux - E. Hansen, Le Trésor de Siphnos, FdD II (1987); E. Simon, ZPE 57, 1984, 1 ff.
[4] s. B. Ch. Petrakos, Marathon, Bibliothek der Archäologischen Gesellschaft zu Athen Nr. 172 (1998) 18 ff.
[5] s. dazu M. Steskal, Chronologische Relevanz und Irrelevanz des "Perserschuttes" von der Athener Akropolis. Verbindlichkeit eines Fixpunktes an der Schwelle zwischen Archaik und Klassik (unpubl. Diss. Wien 1999).
[6] Nach M. S. Brouskari, The Acropolis Museum. A Descriptive Catalogue (1974) 128; E. Langlotz, in: H. Schrader (Hrsg.), Die archaischen Marmorbildwerke der Akropolis2 (1969) 62.
[7] Nach G. Dickins, Catalogue of the Acropolis Museum I. Archaic Sculpture (1912) 246.
[8] Beschreibung nach Dickins a.O. 246 ff. Nr. 688; Langlotz a.O. 62 f. Nr. 21.
[9] Literatur: P. Kavvadias, ADelt 1889, 85. 106; P. Wolters, AM 14, 1889, 122 f.; E. A. Gardner, JHS 10, 1889, 265; G. Perrot - Ch. Chipiez, Histoire de l'art dans l'antiquité VIII (1903) 587 f.; H. Lechat, Au Musée de l'Acropole d'Athènes (1903) 164 Anm. 2; ders., La Sculpture attique avant Phidias (1904) 358 Abb. 26; Dickins a.O. 246-248; ders., JHS 34, 1914, 158; G. von Lücken, AM 44, 1919, 107. 111; E. Schmidt, JdI 35, 1920, 97; E. Langlotz, Zeitbestimmungen der strengrotfigurigen Vasenmalerei und der gleichzeitigen Plastik (1920) 77. 97 ff.; E. Buschor - R. Hamann, Die Skulpturen des Zeustempels zu Olympia (1924) 29; E. Langlotz, Frühgriechische Bildhauerschulen (1927) 161 Taf. 94h; St. Casson, The Technique of Early Greek Sculpture (1933) 125; H. Schrader, Archaische griechische Plastik (1933) 35. 43 Abb. 24; H. Payne - G. M. Young, Archaic Marble Sculpture from the Acropolis (1936) 40 Anm. 2; Langlotz a.O. (Anm. 6) 62 f. Nr. 21; ders. in: E. Langlotz - W. H. Schuchhardt, Archaische Plastik auf der Akropolis (1941) Nr. 39; G. Lippold, Die griechische Plastik, HdA III 1 (1950) 78 Taf. 24, 4; W. H. Schuchhardt, Die Epochen der griechischen Plastik (1959) 76 Abb. 45; Ch. Karouzos, Aristodikos. Zur Geschichte der spätarchaisch-attischen Plastik und der Grabstatue (1961) 48. 55 H5; J. D. Beazley - B. Ashmole, Greek Sculpture and Painting to the End of the Hellenistic Period (1966) 34 Abb. 69; G. M. A. Richter, Korai. Archaic Greek Maidens (1968) Nr. 184; B. S. Ridgway, The Severe Style in Greek Sculpture (1970) 31. 34 f.; Brouskari a.O. 128 Nr. 688.
[10] Gardner a.O. 265 sogar mit dem exakten Datum: 21. Mai 1889; s. auch: H. Lechat, Au Musée de l'Acropole d'Athènes (1903) 164 Anm. 2; ders., La Sculpture attique avant Phidias (1904) 358; Dickins a.O. 246; Langlotz a.O. (Anm. 6) 62; Richter a.O. 102; Brouskari a.O. 128.
[11] z.B. Dickins a.O. 246; Richter a.O. 102; Brouskari a.O. 128. - Langlotz a.O. (Anm. 6) 62 geht von einem gesicherten Funddatum 1882 aus.
[12] z.B. H. Lechat, Au Musée de l'Acropole d'Athènes (1903) 164 Anm. 2; ders., La Sculpture attique avant Phidias (1904) 358. - Gardner a.O. 265 lediglich mit "vor 1889".
[13] Gardner a.O. 265; in den Propyläen: Dickins a.O. 246; Langlotz a.O. (Anm. 6) 62; Richter a.O. 102; Ridgway a.O. 31; Brouskari a.O. 128.
[14] Vgl. U. Muss - Ch. Schubert, Die Akropolis von Athen (1988) 71; Dickins a.O. 247; Ridgway a.O. 31. - Die Verbauung der beschädigten Kore Akrop. Mus. 688 in die Propyläen zeigt, dass es offenbar Einzelobjekte gab, die als archaisch bezeichnet werden und in den frühen 30er Jahren des 5. Jhs. noch nicht unter die Erde gekommen waren.
[15] Dickins a.O. 246; Richter a.O. 102.
[16] Datierung vor 480: Wolters a.O. 122 f. ("äußerste Grenze, welche die Kunst vor den Perserkriegen erreicht hat"); H. Lechat, La Sculpture attique avant Phidias (1904) 358; Lippold a.O. 78 (entstammt zwar nicht dem "echten Perserschutt", trotzdem vor 480); Schuchhardt a.O. 76 (in der Propyläenkore endet der archaische Stil). - Wahrscheinlich vor 480: E. Langlotz, Zeitbestimmungen der strengrotfigurigen Vasenmalerei und der gleichzeitigen Plastik (1920) 77. 97 ff. ("Übergang zu einem neuen Stil"); ders., Frühgriechische Bildhauerschulen (1927) 161 ("jüngste unter den archaischen Koren"); ders. später allerdings vorsichtiger "um 480" (E. Langlotz in: E. Langlotz - W. H. Schuchhardt, Archaische Plastik auf der Akropolis [1941] Nr. 39).
[17] z.B. Dickins a.O. 247 f. ("the series of Korai did not end in 480"); ders., JHS 34, 1914, 158 (stilistisch eher 450 als 480, sicher jedoch nachpersisch); Buschor a.O. 29 (70er Jahre); Payne - Young a.O. 40 Anm. 2 (erste frühklassische Kore); Beazley - Ashmole a.O. 34 ("a work of the seventies"); Karouzos a.O. 48.
[18] s. F. Winter, JdI 2, 1887, 216; Dickins a.O. (Anm. 7) 241; Richter a.O. 99 f.; Langlotz a.O. (Anm. 6) 77; Brouskari a.O. (Anm. 6) 127.
[19] Vgl. R. Tölle-Kastenbein, AA 1983, 582.
[20] Zu den unterschiedlichen Datierungen s. Der Neue Pauly 4 (1998) 301 s.v. Eurymedon (Martini); S. Hornblower, A Commentary on Thucydides Volume I: Books I-III (1991) 153; J. H. Schreiner, Hellanikos, Thucydides and the Era of Kimon (1997) 38-49.
[21] Wie auch Richter a.O. (Anm. 9) 103 ("about 480 B.C.").

© Martin Steskal, Wien
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This article will be quoted by M. Steskal, Versuch einer Datierung anhand eines "gesicherten Fundkontextes" am Beispiel der Propyläenkore von der Athener Akropolis, in: Altmodische Archäologie. Festschrift für Friedrich Brein, Forum Archaeologiae 14/III/2000 (http://farch.net).



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