Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 14 / III / 2000

DER EBER UND DER HEROS (KTISTES)

Auf der Suche nach einem geeigneten Geburtstagsgeschenk für Friedrich Brein schien mir dem Eberthema eine besondere persönliche Bedeutung zuzukommen. Brein selbst hat als langjähriger Ephesier u.a. auch seine Gedanken zur historischen Topographie der vom Ebertöter Androklos gegründeten Stadt publiziert. Sein vielleicht liebstes Projekt aber war die von ihm eingeleitete Erforschung von Aitolo-Akarnanien; als die wohl wichtigste antike Erzählung dieses Gebietes wiederum darf die Kalydonische Eberjagd bezeichnet werden. Schlußendlich liegt die universitäre Wirkungsstätte Breins ebenso wie sein Weingarten am Ausläufer des ketion oros (vulgo Wienerwald), jenes wildschweinfreundlichen Waldgebirges, das um die Zeitenwende zum regnum Noricum gehörte, ehe römische Verwaltungsnotwendigkeiten es mit dem übrigen boischen Siedlungsgebiet zur Provinz Pannonien schlugen. Die herausragendste Stadt in Noricum, Virunum, aber ist neuesten Erkenntnissen zufolge im antiken Mythos mit der Überwindung eines Ebers in Verbindung gebracht worden und die in Westpannonien ansässigen Boier sahen die Eberjagd ebenfalls als etwas besonderes an. So möge dieses kleine Geburtstagsgeschenk dem Jubilar nicht nur an so manche überstandene universitätsinterne Jagdgesellschaft à la Kalydon gemahnen, in der das zu erledigende Problem nicht immer der schlimmste Feind war, sondern auch an den angeblichen Glauben der alten Germanen erinnern, daß der Eber (eigentlich "Keiler") den Menschen das Pflügen gelehrt habe. Daß Brein den Pflug recht zu führen versteht, beweist nicht nur das gute Tröpfchen, daß in seinem Garten heranreift, sondern auch die reiche Ernte an bei ihm verfaßten Diplomarbeiten und Dissertationen, die deutlich Breins Wirken an der Alma Mater Rudolphina in die nächste Generation von Wissenschaftern hinüberführt.

Die einleitend genannten Mythen sind zwar nicht die einzigen antiken Erzählungen, in denen der Eber vorkommt, aber nur in ihnen kommt er über seine bloße Rolle als Mordbestie hinaus, deren Auftritt lediglich dazu dient, einem Heros, etwa Adonis-Tammuz oder dem samischen Ankaios, das Leben aushauchen zu lassen, wobei gerade in diesem Fall auch Ares selbst in dem Eber stecken kann [1]. Auch im irischen Mythos wird der Held Diarmuid von seinem in einen Eber verwandelten Widersacher Finn mac Cool getötet. Interessant wäre, ob der Gründungsmythos von Stift Kremsmünster in Oberösterreich, der allerdings erst für die Zeit um 1300 mit dem damals geschaffenen Gunther-Kenotaph bezeugt ist, ebenfalls auf (indo)germanische Wurzeln zurückgeht. Das Kloster, eine Gründung des letzten Agilolfingers Tassilo III. mit Weihedatum 777 soll der Legende nach an der Stelle stehen, an der ein wilder Keiler den (historisch nicht belegten) Herzogssohn Gunther tötete (Abb. 1) [2]. Diese christlich geprägte, aber vielleicht aus einem älteren (bajuwarischen bzw. allgemeiner germanischen?) Ambiente entsprungene Erzählung steht jedenfalls in (beabsichtigtem?) Kontrast zu den antiken Mythen schon insofern, als hier der Sieg des Ebers zur (Kloster-)Gründung führte, während dort die Überwindung des Tieres die Voraussetzung zur (Stadt-)Gründung bzw. deren Weiterbestand wurde.

Abb. 1: Gunther-Kenotaph in Stift Kremsmünster, 13. Jh. (nach 1200 Jahre Kremsmünster. Stiftsführer [1977] 5)

Auffällig ist, daß alle drei griechischen Mythen, die den Eber in die Nähe einer Protagonistenrolle rücken (das sind der Erymanthische, Kalydonische und Ephesische Eber), eine Verbindung des Tieres mit Artemis implizieren.

Die Überwindung des Erymanthischen Ebers stellte zwar für Herakles auf seinem Weg vom Menschen zum Aufstieg in den Olymp nur eine Episode dar, die Einreihung als vierte Tat des Dodekathlos erhebt sie aber deutlich über die im Vergleich offenbar harmlose Tötung des Nemeischen Löwen gleich zu Beginn des Katalogs. Für unser Anliegen von Bedeutung ist neben dieser Hervorhebung des hohen Prestiges, das ein Ebertöter im Vergleich zu anderen Jägern erringen konnte, die Tatsache, daß das Tier in einem der Lieblingsgebiete der Artemis [3] lebte. Da Herakles auch keinen anderen Zweck verfolgte, als die befohlene Tat zu vollenden, wurde der Eber auch nicht getötet, sondern nach Vorzeigung in Mykene wieder freigelassen. Von dem Eber hatten sich bis zum Eingreifen des Herakles ohnehin nur ein paar Bauern gestört gefühlt und dabei scheint es auch im folgenden geblieben zu sein.

Die ephesische Lokalsage über den Stadtgründer Androklos [4], einen Sohn des Kodros, dürfte sich relativ spät, wohl erst im 5. Jh. unter athenischem Einfluß, ausgebildet haben, als älteste Quelle kennen wir Kreophilos [5]. Demnach gab das delphische Orakel Androklos den Auftrag, die Kolonisten dort anzusiedeln, wo ihnen ein Fisch und ein Eber ein Zeichen gäben. Nach längerer Suche zogen die Griechen ihre Schiffe in der Mündungsbucht des Kaystros an Land und brieten Fische. Einer von diesen fiel samt etwas Kohle aus der Pfanne, aus dem somit entzündeten Gebüsch sprang ein Eber hervor, der von Androklos über den Berghang gejagt und schlußendlich bei der Quelle Hypelaios mit dem Speer erlegt wurde (Abb. 2). Aus Strabon und Pausanias wissen wir außerdem, daß Androklos im folgenden die einheimische karisch-lelegische Bevölkerung mit Ausnahme der beim Artemision Siedelnden verjagte und sein Leben im Kampf gegen die Autochthonen verlor, als er der Stadt Priene gegen diese beistand.

Abb. 2: Androklos tötet den Eber; Relieffries aus dem sog. Hadrianstempel am Embolos in Ephesos (Österreichisches Archäologisches Institut, Archiv, Photo Th. Römer)

Androklos zeichnete sich demnach durch hohe Abkunft (Königssohn) und großen Mut (Ebertötung) aus, diente aber auch der gemeingriechischen Sache gegen die Barbaren, als er bei der Verteidigung Prienes half. Nur nebenbei sei bemerkt, daß letzteres übrigens genau das Gegenteil der Handlungsweise der Ephesier zu Beginn der Perserkriege war. Dies soll aber ebenso wie die aus dem Mythos eventuell zu gewinnenden Angaben zur Stadttopographie nicht Gegenstand unserer weiteren Betrachtungen sein.
Der Eber tritt im Androklosmythos wie bei Herakles in einem der Artemis gehörenden Gebiet auf. Seine Tötung läßt die Siedler einerseits das Land erst urbar machen, seine bloße Existenz zeigt aber an, daß die zukünftige Stadt eben in noch weitgehend unkultiviertem Land errichtet werden kann, ohne daß der zahlenmäßig kleinen Kolonistengruppe Gefahr von gefestigten älteren Lokalgemeinschaften droht. Die Fische wiederum symbolisieren einerseits die Meeresnähe und eine weitere Ernährungsbasis wie auch die im Mythos als Ort der Ebertötung genannte Hypelaios (Ölbaumquelle), die ihrerseits die Existenz von Süßwasser und Oliven impliziert. Der Hinweis des Orakels auf den Eber gibt den Siedlern somit eine von mehreren Rahmenbedingungen vor, die einer Stadtgründung günstig sind; kaum ist damit jedoch Wild als Nahrungsquelle gemeint, das nach zahlreichen archäozoologischen Untersuchungen in antiken Städten sowenig eine Rolle gespielt hat wie heutzutage.
Über die allgemeine Bedeutung dieses Tieres als Bewohner unkultivierten Landes hinaus könnte aber damit auch ein gezielter Hinweis auf das "Land der Artemis Ephesia" beabsichtigt gewesen sein. Somit könnte der Mythos einerseits einen Fingerzeig auf eine schon sehr früh, nämlich noch vor der Kolonisation, erfolgte Gleichsetzung der ephesischen Göttin mit Artemis, andererseits auf das bei der delphischen Priesterschaft noch vorhandene Wissen um einen ehemaligen mykenischen Handelsposten auf dem heute Ayasoluk benannten Berg [6] geben. Am Fuß dieses damals an der Küste liegenden Berges sollte seit dem 8./7. Jh. v. Chr. das Artemision als monumentaler Tempelbezirk ausgebaut werden, dessen Platz aber war nach sich in jüngster Zeit verdichtenden Funden bereits in mykenischer Zeit zumindest begangen worden [7].

Die Kalydonische Eberjagd (Abb. 3) braucht hier nicht in allen Einzelheiten erzählt zu werden. Wichtig ist der Beginn des Unglücks, das vergessene Opfer des Königs Oineus von Kalydon an Artemis, die zur Strafe den besonders riesigen und aggressiven Eber sandte, der die Fluren der Stadt verwüstete. Zur Jagd nach ihm taten sich schließlich alle Helden Griechenlands mit Ausnahme des Herakles zusammen, die Tötung des Untiers gelang nach sechstägiger Jagd dem Lokalmatador Meleager, Oineus' Sohn.

Abb. 3: Kalydonische Eberjagd auf einem attischen Sarkophag in Istanbul, 3. Jh. n.Chr. (nach G. Koch, AA 1974, 625 Abb. 15)

Hatte der Eber schon zuvor mehrere Jagdteilnehmer getötet und hatten andere sich absichtlich oder durch Mißgeschick gegenseitig umgebracht, so kam es nun noch zum Doppelmord an den Oheimen des Meleager, die Einspruch gegen die Übergabe der Trophäe an das Mädchen Atalante erhoben hatten, wie es der in sie verliebte Meleager wollte, da sie seiner Ansicht nach den Eber als erste verletzt hätte. Der Meleagermythos kennt verschiedene Varianten des Fortgangs der Geschichte [8]. Für hier interessant ist die bereits von Homer [9] erzählte, also frühe Version, in der Meleager mit den Trophäen zu Oineus zurückkehrte. Am Kampf gegen die zur Rache an den Oheimen aufgebrochenen Kureten von Pleuron beteiligte er sich zuerst nicht, da die eigene Mutter Althaia ihn ob des Mordes verflucht hatte. Erst auf Bitten seiner Frau Kleopatra erhob er sich vom Ehelager, als die Stadt schon verloren schien, vertrieb die Feinde aus ihr, fand aber vor der Stadt den Schlachtentod.
Wichtig für verallgemeinernde Betrachtungen ist die Beziehung des Ebers zu Artemis, die sich auch nach der Jagd mit dem Rachefeldzug der Kureten fortsetzt. Kureten hießen etwa in Ephesos die mythischen Krieger, deren Waffenlärm den Geburtsschrei der Göttin übertönte, später ein Priesterkollegium im Prytaneion [10]. Der Tötung des Meleager ist die notwendige und unabdingbare Sühne für die der Artemis zugefügte Kränkung infolge der Erlegung des Ebers und zugleich die Legitimation der Wächter der Göttin, die nur ihre Aufgabe erfüllen, wenn sie nach Kalydon ziehen. So erklärt sich auch, daß sie trotz Meleagers Tod die Stadt nicht einnehmen, sondern wieder abziehen. Erst spätere Versionen des Jagdmythos', die das Sakrilegium nicht mehr verstanden, brauchten die Ermordung der Oheime und den Fluch der Mutter bzw. das Ammenmärchen vom Holzscheit, dessen Verbrennen die Parzen mit dem Ende des Meleager verknüpft haben sollen. An Parallelen für die unversöhnliche Haltung der Schwester des nicht minder kompromißlosen Apollon mangelt es nicht, man denke nur an die unschuldigen Niobiden, den unglücklichen Hippolytos oder den fürwitzigen Aktaion. So gesehen könnte man Meleager als den mythischen Prototyp des Versagers, der sich für die Stelle als "Heiliger König" bewirbt, aber eben bei der Prüfung durchfällt, bezeichnen. Nicht zu töten ist dieser ja berufen, sondern sein Volk zu mehren. Meleager steht somit in jeder Hinsicht als Antipol zu Androklos. Der eine tötet aus Ehrsucht den Eber, der Königshaus und Stadt zur Strafe von der Gottheit gesandt worden war, und dann auch noch andere (gute) Griechen; der andere ersetzt der Göttin den vom Orakel beauftragten Verlust des Ebers (Chiffre für "wildes Land") durch neue Verehrer (Stadtgründung) und kämpft selbstlos bis zum eigenen Tod für die gemeingriechische Sache. Unter dieser Voraussetzung wollen wir uns nun einer weiteren antiken Erzählung zuwenden.

Vor wenigen Jahren erst hat G. Dobesch [11] einen nur in der Suda [12] und einem unvollständig edierten Tractatus [13] erscheinenden Mythos entdeckt und publiziert, der eine etymologische Erklärung des Stadtnamens Virunum bietet und in den genannten Quellen ausdrücklich als Parallele zur Kalydonischen Jagd bezeichnet wird. Ich gebe hier der Kürze halber nur die Übersetzung des Textes der Suda nach Dobesch wieder:
"Verunion: Name einer Stadt. Die Noriker nämlich sind ein Volk, wo ein gottgesandtes Exemplar von einem Keiler das Land verwüstete. Alle versuchten es gegen ihn, aber richteten nichts aus, bis ein Mann ihn umwendend sich auf seine Schultern legte, so wie es auch von Kalydon als Sage erzählt wird. Die Noriker aber riefen ihm zu ‚Ein Mann' in ihrer eigenen Sprache, das ist Virunus. Daher wurde die Stadt Verunion genannt."
Der Traktat erzählt die Geschichte etwas ausführlicher aber passagenweise fast wortgleich, erwähnt aber die Lage der Stadt an einem steilen Berghang, womit verständlich wird, daß mit Virunum nicht etwa die Mitte des 1. Jhs. n. Chr. auf dem Zollfeld erbaute Stadt, sondern deren etwa ein Jahrhundert ältere Vorgängerin auf dem Magdalensberg gemeint ist. Der diesbezüglich unter Heranziehung weiterer Quellen überzeugenden Argumentation von Dobesch ist nichts hinzuzufügen, auch nicht seinem Hinweis auf die etruskischen Darstellungen von Meleager, der eben nicht den ganzen Eber geschultert hat, sondern nur die Trophäen zu Oineus bringt. Abgesehen von der ohnehin etwas unklaren Bedeutung von peritrepsas ("ihn umwendend") und der damit verbundenen unlösbaren Frage, ob der Eber lebend oder tot vom Helden geschultert wurde, scheint mir die Parallelität zu Kalydon ohnehin ganz anders gemeint gewesen zu sein. Den Blick verstellt hier die etwas längere Fassung des Tractatus, die neben Kalydon auch noch den Marathonischen Stier als Parallele aufnimmt. Dies mag aber wohl späte Gelehrsamkeit sein, angeregt durch das "auf die Schultern Legen" des Ebers. In Kalydon wurde der Eber wie in Virunum von einer Gottheit gesandt, deren Zorn hervorgerufen worden war. Der Frage nachzugehen, ob diese Gottheit auch in Virunum weiblich, vielleicht gar der griechischen Artemis verwandt war, ist verlockend, für hier begnüge ich mich allerdings mit zwei Hinweisen. Erstens bezeugt Strabon [14] für den keltisch besiedelten Raum um Timau (am Fluß Timavus), also in der südwestlichen Nachbarschaft Virunums, die Verehrung der "Aitolischen Artemis", die hier einen Paradiesgarten mit wundersam zahmen Wildtieren besessen haben soll. Zweitens darf die nur vom Kärntner Loiblpaß, der Verbindungsstraße von Virunum nach Süden, durch zwei Weihinschriften bekannte Belestis [15] wohl am ehesten als Parhedros (Schwester?) des mit Apollo geglichenen Belinus verstanden werden. Belinus aber war nicht nur der Hauptgott der Noriker, wie Tertullian [16] zweimal ausdrücklich hervorhebt, sondern auch der Schutzgott von Aquileia [17], der Stadt, aus der die meisten am Magdalensberg ansässigen Italiker im Auftrag ihrer Handelshäuser nach Noricum gekommen waren.
Viel wichtiger als diese Spekulation erscheint mir aber eine andere Parallele zwischen den beiden Erzählungen. Der Zorn der Gottheit setzt die Existenz der Stadt und einen Fehler der hier wohnenden Menschen voraus, d.h. es handelt sich nicht um einen alten Gründungsmythos, wie Dobesch mehrmals betonte, schon gar nicht um den eines Heiligtums (auf dem Gipfel des Magdalensberges), sondern um eine Episode aus der (erfundenen? Früh-)Geschichte der Stadt, deren wesentlicher Zweck die etymologische Erklärung des Stadtnamens war. Möglicherweise liegt ihr Kern auch in einer historischen Eberjagd begründet, die dann in den etwa 100 Jahren stattgefunden haben müßte, deren ungefähre Mitte im Jahre von Christi Geburt liegt, da die umfangreichen Ausgrabungen die Besiedlung lediglich für diesen Zeitraum nachweisbar werden ließen. Die Stadt auf dem Magdalensberg war "mindestens ab der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts" besiedelt, unter Claudius wurde sie verlassen und das neue Virunum auf dem Zollfeld erbaut [18]. Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, daß für dieses eindeutig italische Handelsemporium [19], welches im norischen Gebiet errichtet und wohl auch mit einem aus lokalen Gegebenheiten entnommenen Namen versehen worden war [20], eine ältere lokale oder gemeinkeltische Sage für die Erzählung herangezogen worden sein könnte, beweisbar ist dies aber nicht. Genausogut könnte der bekannte Hang der antiken Gelehrsamkeit zur sogenanntenVolksetymologie in Verbindung mit der zweifellos vorhandenen, wenn auch im Detail vielleicht verschwommenen Kenntnis griechischer Mythen, schon wegen der aus dem Namensgut vom Magdalensberg deutlich werdenden Herkunft vieler Händler aus dem griechischen Osten, und einem tatsächlichen lokalen Ereignis zur Erfindung bzw. Ausschmückung der Erzählung vom Ebertöter geführt haben. Zu einer Einbeziehung des Ebertragens mag der in der Geschichte zwar nicht erwähnte, aber wohl allseits bekannte Herakles durchaus beigesteuert haben, aber schon ganz normale Angeberei, im keltischen wie allgemein im jagdgesellschaftlichen Ambiente nichts Ungewöhnliches, konnte das "Schultern des Ebers" als märchenhaften Zusatz zur Jagdgeschichte werden lassen [21].
Umgekehrt könnte dieses "Schultern des Ebers" über das übersteigerte Heldenelement hinaus auch einen sehr ernsten Hintergrund besitzen, der eben schon Herakles seine Tiere lebend fangen ließ. Es ging in Virunum wohl darum, den vom Eber verursachten Schaden in Hinkunft abzuwenden, ohne die erzürnte Gottheit durch ein neuerliches Sakrileg zu reizen. Der norische "Virunus" versuchte also im Einklang mit der Gottheit zu handeln, ganz im Gegensatz zu Meleager.

Für eine derartige Haltung aber haben wir in der keltischen Welt nur einen möglichen Beleg. Eberjagd war "ein Hauptvergnügen der Kriegergesellschaft" und die Tötung des Keilers galt "als heroisches Bravourstück, das zur Herrschaft legitimierte", sogar Diokletian soll sich von einer Druidin weissagen haben lassen, daß er nur durch Tötung eines Ebers (nämlich, wie sich herausstellen sollte, des Prätorianerpräfekten Aper) die Herrschaft erringen werde [22]. Für diese Haltung besitzen wir im gesamten keltischen Raum (Abb. 4), aber interessanterweise auch boischen Siedlungsgebiet im Wiener Becken, das eben genau zu der Zeit, in dem das Virunum auf dem (Magdalens-)Berg existierte, unter norischem Einfluß stand, numismatische und archäologische Beweisstücke.

Abb. 4: Kelto-iberischer Bronzewagen von Merida in hallstattzeitlicher Tradition (nach H. Birkhan, Kelten. Bilder ihrer Kultur [1999] 330 Abb. 586)

Abb. 5: Didrachme des Boierfürsten BIATEC (ca. 45 v. Chr.)
mit gespeertem Eber (Numismatisches Institut der Universität Wien)


Abb. 6: Grabstein des boischen Ritters Aptomarus aus Maria Lanzendorf (1. Jh. n. Chr.) mit Relief der Eberjagd (nach A. Neumann, CSIR Österreich I 1 [1967] Taf. XXXVI)
Um 45 v. Chr. prägte der Boierfürst, der mit dem Namenszug BIATEC signierte, eine Didrachme mit dem gespeerten Keiler auf dem Revers (Abb. 5) [23], etwa ein Jahrhundert später ließ sich der Adelige At(e)pomarus, Sohn des Ilo(n), in der Gegend des heutigen Maria Lanzendorf (südöstliche Stadtgrenze Wiens) einen Grabstein setzen, dessen Relief ihn tatsächlich, nomen est omen, als "großen Reiter" auf der Eberjagd zeigt (Abb. 6) [24]. Im Gegensatz zu den "Meleagertypen" BIATEC und Atpomarus steht der fromme Arthur, der den furchtbaren, ganz Britannien verwüstenden Eber Twrch trwyth eben nicht tötet, sondern ihn solange über die Insel jagt, bis dieser in Cornwall auf ewige Zeiten ins Meer flüchtet [25], also wohl zurückgeht in die "Andere Welt" jenseits des Meeres, aus der er gekommen ist. H. Birkhan [26] argumentiert, daß der zu überwindende Eber für die Kelten einen konkurrierenden Fürsten darstellte, dessen Überwindung zur Herrschaft legitimierte. In diesem Sinne träfen die keltische und die griechisch-römische Kernvorstellung der Eberjagd zusammen und es könnte somit ein noch älterer, sozusagen gemein-indogermanischer Mythenkern erschließbar werden. Einer solchen Vermutung ist aber entgegenzuhalten, daß die späten schriftlichen Versionen der irisch-britischen Mythologie einerseits durch die christlichen Autoren mit den Ideen der neuen Religion bewußt überformt worden sind, andererseits Teile Britanniens zum Imperium Romanum gehört haben und damit schon in der Antike eine Vermischung keltischer und mediterraner Mythen stattgefunden haben kann. Ohne das eindeutige Korrektiv vorrömischer oder zumindest antiker archäologischer Zeugnisse (Münzbilder, Reliefs und Freiplastik, Inschriften) kann die keltische Authentizität der insularen Erzählungen nicht verläßlich genug eingeschätzt werden, um daraus wiederum verallgemeinernde Aussagen für die Festlandkelten zu gewinnen.
Am wahrscheinlichsten hat sich in Virunum ein gleichartiger Vorgang abgespielt, wie wir ihn auch für das unwesentlich ältere Aphrodisias in Karien erschließen dürfen. Die am Ort eines alten Heiligtums der Ninoè (Aphrodite/Venus) erst nach Einrichtung der römischen Provinz Asia (also nach 133 v. Chr.) entstandene Stadt wird von Stephanos von Byzanz mit dem frühen Namen Ninoè nach ihrem angeblichen Gründer Ninos bezeichnet. Jüngste Ausgrabungen haben in unmittelbarer Nähe der Agora eine Basilika des späten 1. Jhs. n.Chr. zutage gefördert. Ein großer Reliefzyklus auf den Schrankenplatten des Oberstocks erzählt die literarisch nur aus der Notiz des Stephanos überlieferte Gründungslegende, in der das Ehepaar Ninos und Semiramis sowie Phrygios, Apollon und Bellerophon vorkommen, interessanterweise ist auch eine Eberjagdszene in das Geschehen eingebaut (Abb. 7) [27], deren Bedeutung im Gesamtkontext vielleicht nach der noch in Arbeit befindlichen Gesamtpublikation des Frieses durch B. Yildirim klarer gesehen werden kann.

Abb. 7: Relief aus dem Fries mit der Gründungslegende von Aphrodisias: Eberjagd (nach K.T. Erim, Aphrodisias [1986] 101)

Die Bürger von Aphrodisias und Virunum, junger Städte am Rande der griechisch-römischen Kulturwelt, verspürten offenbar gleichermaßen das starke und politisch wirksame Verlangen durch einen aitiologischen Mythos, in dem der ausersehene Heros Ktistes als Namengeber eingesetzt wurde (Ninos bzw. der anonyme "Virunus"), ihre "corporate identity" und die spürbare psychologische Unterlegenheit gegenüber den alten Städten zu stärken; ein Vorgang, wie er sich im griechischen Raum seit Jahrhunderten als Selbstverständlichkeit etabliert hatte. Ob mit der Eberjagdszene eine Anleihe beim ephesischen Gründungsmythos oder der in ihrer ursprünglichen Bedeutung nicht mehr verstandenen Kalydonischen Jagd genommen wurde oder unabhängig davon einfach die heroische Komponente der Eberjagd als passend in die Legenden aufgenommen wurde, wollen wir hier offen lassen. Die Geschichte des Eber-Umwenders von Virunum scheint mir aber in der griechisch-mediterranen Kulturwelt, aus der die (meisten) Virunenser stammten, besser beheimatet zu sein als im keltischen Umfeld der neuen Stadt, wenn dieses auch einen gewissen Einfluß auf die Erzählung gehabt haben mag.

[1] Eine Liste solcher Mordszenen bei R. Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung (1984) 61f. Nr. 18.7.
[2] Vgl. B. Wintersteller O.S.B., Stiftskirche I, in: 1200 Jahre Kremsmünster. Stiftsführer (1977) 76-79.
[3] Od. VI 103.
[4] Alle Quellenbelege zusammengestellt bei H. Thür, Der ephesische Ktistes Androklos und (s)ein Heroon, ÖJh 64, 1995, 63-74.
[5] Vgl. Athenaios VIII 361 c-e.
[6] Zu mykenischen Funden am Ayasoluk vgl. M. Büyükkolanci, Apasas-Ephesos, Forum Archaeologiae 10/III/99.
[7] A. Bammer - U. Muss, Das Artemision von Ephesos (Zaberns Bildbände zur Archäologie, 1996).
[8] Gesammelt etwa bei K. Kerenyi, Die Mythologie der Griechen II. Die Heroengeschichten8 (1986) 95-101.
[9] Il. IX 549.
[10] D. Knibbe, Der Staatsmarkt. Die Inschriften des Prytaneions, Teil 1, FiE IX/1/1 (1981) passim; G.M. Rogers, The Sacred Identity of Ephesos (1991) 144ff.
[11] G. Dobesch, Zu Virunum als Namen der Stadt auf dem Magdalensberg und zu einer Sage der kontinentalen Kelten, Carinthia 187, 1997, 107-128.
[12] Suda B 265 Adler.
[13] E. Miller, Journal des savants 1872, 389.
[14] Strab. V 1.8, C 215.
[15] CIL III 4773; R. Egger, Carinthia 136-138, 1948, 277f. Auf einem der Altäre sind wilde Tiere (Panther und ein anderer Vierfüßler: Bär, Löwe oder Eber) und Bäume in den schlecht erhaltenen Seitenreliefs dargestellt.
[16] Tert. Apol. 24; ad nat. II 8.
[17] G. Brusin, Beleno, il nume tutelare di Aquileia, Aquileia Nostra 10, 1939, 1-26.
[18] G. Piccottini - H. Vetters, Führer durch die Ausgrabungen auf dem Magdalensberg4 (1990) 12f. und 21.
[19] Dobesch a.O. bes. 108-111.
[20] Diese Praxis der Namengebung entsprach durchaus römischen Gewohnheiten und sagt gar nichts über bestehende Altsiedlungen, wie in Noricum auch das Beispiel des von Hadrian e nihilo gegründete Cetium in dem gleichnamigen Waldgebiet zeigt.
[21] Um die Skepsis auf die Spitze zu treiben, könnte man auch folgendes Szenario entwerfen: Die aus der, ungefähr zeitgenössischen, parodistischen Erzählung vom "Gastmahl des Trimalchio" sattsam bekannte Neigung der (auf dem Magdalensberg stark vertretenen) Freigelassenen, die Abendunterhaltung von sog. Homeristen besorgen zu lassen, die durch Abspielen von im Handlungsablauf völlig verdrehten Mythen unter Hinzufügung derber Possen billig Lacherfolge beim halbgebildeten Publikum erzielten, läßt es nicht gänzlich ausgeschlossen erscheinen, daß die ganze "Sage" eventuell gar überhaupt im Zuge eines solchen Symposiums entstand, bei dem eine "Kalydonische Eberjagd à la Virunum" gegeben wurde, bei der ein homeristischer Witzbold den Mythos mit lokalen Elementen und solchen aus dem Genre "Herakles im Satyrspiel" anreicherte. Erfahrenen Ephesiern wie unserem Jubilar sind ähnliche Mythenbildungen am abendlichen Ausgräber-Stammtisch durchaus vertraut.
[22] Vgl. H. Birkhan, Kelten (1997) 739-744. Die Eberjagd als Zeichen herausragender virtus war auch sonst römisch-kaiserlicher Propaganda nicht fremd, wie ein hadrianischer Tondo am Konstantinsbogen zeigt; vgl. E. Simon, Ein spätgallienischer Kindersarkophag mit Eberjagd, JdI 85, 1970, 215-219.
[23] R. Göbl, Die Hexadrachmenprägung der Groß-Boier (1994) 30 u. passim: Typus II/6-29.
[24] A. Neumann, CSIR Österreich I 1, Die Skulpturen des Stadtgebietes von Vindobona (1967) 28f. Nr. 36.
[25] vgl. Birkhan a.O. 739.
[26] Birkhan a.O. 743.
[27] Vgl. vorläufig K.T. Erim, Aphrodisias, City of Venus Aphrodite (1986) bes. 24ff. u. 99ff.

© Peter Scherrer, Wien
e-mail:
pscherre@oeai.univie.ac.at

This article will be quoted by P. Scherrer, Der Eber und der Heros (Ktistes), in: Altmodische Archäologie. Festschrift für Friedrich Brein, Forum Archaeologiae 14/III/2000 (http://farch.net).



HOME