Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 14 / III / 2000

EIN KOPFGEFÄSS AUS DEM SCHACHTBRUNNEN AM STAATSMARKT VON EPHESOS [1]

Der Brunnen befindet sich in einem Gebäude, das östlich direkt an das Hydrekdocheion des Laekanius Bassus am südlichen Westende des Staatsmarktes anschließt. Der Brunnen scheint jedoch nicht zur Wasserversorgung dieses Gebäudes, sondern eines Vorgängerbaus gedient zu haben [2]. Die Ruine wurde im Zuge der Grabungen am Hydrekdocheion angeschnitten und daher nicht planmäßig freigelegt. Der Baukomplex liegt jedenfalls in einem Viertel, in dem bis jetzt ausschließlich öffentliche Gebäude identifiziert werden konnten [3]. Der Inhalt des Brunnens wurde in den Jahren 1980 und 1981 durch R. Meriç gehoben [4]. Die Füllung des Brunnens lässt sich in vier Schichten - A bis D benannt - unterscheiden. Die einzelnen Abschnitte können zum Teil feinchronologisch unterschieden werden. Die Datierung der Schichten reicht von späthellenistischer-augusteischer bis in frühhadrianische Zeit. Das Kopfgefäß (Museum Selçuk, Inv.Nr. 106/32/82), das hier vorgestellt werden soll, fand sich im Abschnitt B1, in dem Funde aus dem 1. Viertel des 1. Jhs. n. Chr. vergesellschaftet waren. Das Fundmaterial besteht aus Tafelgeschirr, das sich zum größten Teil zu ganzen Gefäßen zusammensetzen lässt, einigem Kochgeschirr und einer Anzahl von Terrakotten [5].
Das Gefäß ist sehr gut erhalten, nur ein Henkel und der größere Teil der Lippe sind abgebrochen. Der Ton ist zimtbraun und der Überzug matt in der Farbe des Tons in einer dunkleren Abstimmung. Es ist in Form eines Kopfes mit zwei Henkeln ausgeführt und zeigt das Gesicht eines bärtigen, gealterten Mannes, der ein Tuch um den Kopf gebunden trägt (Abb. 1). Das Tuch bedeckt die obere Hälfte der Stirn und lässt nur noch die üppig hervortretenden Schläfenlocken frei, die seine Ohren verdecken. Unter dem Tuch, das in der Ausführung den dünnen Stoff, aus dem es gewebt war, erkennen lässt, drücken sich schwach die Konturen von zwei Hörnern durch, die sich in enger Stellung am Haaransatz befinden. Zwischen den Hörnern senken sich kleine und nach rückwärts spannen sich seitlich weiche Falten, die die Umrisse der Hörner deutlich machen. Der Tuchsaum ist durch eine Kerbe abgesetzt.

Abb. 1: Kopfgefäß, Vorderseite; Selçuk, Efes Müzesi, Inv.Nr. 106/32/82 (Photo N. Gail)

Abb. 2: Kopfgefäß, Rückseite; Selçuk, Efes Müzesi, Inv.Nr. 106/32/82 (Photo N. Gail)

Die Rückseite des Gefäßes (Abb. 2) zeigt auf dem Hinterkopf Bänder, die mit einem Heraklesknoten gebunden sind; die Tuchenden sind als Schlinge ausgeführt und flattern auf natürliche Weise weit auseinander. Das Tuch selbst endet im Nacken, wo sich mehrere Staufalten bilden und leicht nach außen schwingen, dem Nackenschutz eines Helmes ähnlich [6]. Bis zur Lippe des Mündungsrandes erweitert sich das Gefäß etwas nach außen. Am höchsten Punkt des Kopfes - hält man das Gefäß verkehrt, aber den Kopf in richtiger Position - befindet sich eine kleine Öffnung, von der sich auf der Rückseite eine Kerbe bis zum Knoten des Tuches zieht. Der Hinterkopf vermittelt in dieser Perspektive eindeutig das Aussehen eines Phallos. Der Verlauf des Bandes, in dem sich der Knoten befindet, markiert die corona glandis, die Kerbe das frenulum praeputii. Die mit dem Gefäßrand endenden Henkel fügen sich harmonisch in das Gesamtbild der Ansichtsseite des Gesichtes. Der Bart ist eine eigentümliche Kombination aus einem archaisierenden Element, dem tief herabhängenden Schnurrbart, und dem zangenähnlichen Kinnbart, der aus zwei asymmetrischen Bartsträhnen gebildet ist. Das Kinn selbst ist allerdings bartlos.
Das Gefäß folgt einerseits der Form des Kantharos mit den ausladenden Henkeln, deren oberes Bogenende bereits mit dem Mündungsrand abschließt und nicht wie üblich weit darüber hinausgezogen wurde; andererseits dem Rhyton mit der kleinen Ausgussöffnung, die, wenn das Rhyton angefüllt war, mit dem Finger geschlossen und erst beim Spendevorgang geöffnet wurde. Rhyta sind jedoch henkellos oder bestenfalls mit nur einem Henkel am Halsende ausgestattet. Jedenfalls hat das Gefäß nicht die in archaischer und klassischer Zeit üblichen Form der Kopfgefäße, deren Standfläche das untere Halsende bildet und die nur eine einzige Öffnung besitzen, nämlich jene, die sich auf dem Scheitel befindet. Das Gefäß ist wie die klassisch-hellenistischen Tierkopfrhyta gebildet, die nur auf der großen Öffnung am Hals - also verkehrt - aufgestellt werden konnten. Deshalb schlossen die Henkel mit der Gefäßmündung ab, um eine Stellmöglichkeit zu gewähren. Rhyta sind jedoch zumeist mit nur einem Henkel ausgestattet [7]. Sinn und Funktion als Spendegefäß sind damit eindeutig festgelegt. Dabei mögen auch die unterschiedlich ausgearbeiteten Seiten zum Tragen gekommen sein. Im Gebrauch, beim Spenden, wurde die phallische Seite gezeigt und außer Funktion, im leeren Zustand aufgestellt, blickte Dionysos "aus" dem Gefäß. Vergleicht man Rhyta, die ebenso Anleihen an Kantharoi aufweisen, so ist die Lippe als Stellfläche immer auszuschließen, denn die Bildfriese sind immer in Spendehaltung, also mit dem Gussloch nach unten und der Lippe nach oben, zu lesen [8].
Der bärtige Kopf eines Mannes auf einem Spendegefäß stellt wohl ohne Zweifel den Gott Dionysos dar. Die Version mit den Hornbuckeln und dem umgebundenen Tuch ist allerdings eine seltene [9]. Aus Side stammt der Kopf einer Marmorherme, der einen Dionysos in gleicher Ausführung darstellt [10]. Das tönerne Gefäß hat besonders im Bezug auf die Augen verblüffend große Ähnlichkeit mit dem Hermenkopf. Sie sind ebenso leicht geschlossen, zu kleinen Mandeln zusammengekniffen, die einen träumerischen Eindruck vermitteln; wie beim Hermenkopf ziehen von den äußeren Augenwinkeln Falten weg. Im Gegensatz dazu sind die Augenbrauen in einem hohen Bogen gezogen, so wie sie eher bei hellenistischen Satyrbildern anzutreffen sind. Auch das Tuch ist in ähnlicher Weise um den Kopf gebunden, der Hermenkopf trägt jedoch die Tuchenden schlingenförmig in dem Band um das Tuch eingeschlagen. Führt J. Inan noch verschiedene Argumente ins Treffen, die die Interpretation als Dionysos sichern sollten, so ist bei dem Spendegefäß in Kombination mit seiner Rückseite wohl jeder Zweifel auszuschließen. Für das Rhyton und den Hermenkopf ist wohl dasselbe Vorbild Pate gestanden, das Inan als hellenistisches Original mit archaistischen Zügen bezeichnet [11].
Die Kopfbedeckung ist als Mitra zu deuten, ein Attribut des Dionysos, das einen Hinweis auf seine östliche, westkleinasiatische Herkunft offenbart und sozusagen als Bestandteil seiner Tracht zu werten ist [12]. Teilnehmer an Symposien konnten anstelle der Tänien auch eine Mitra tragen, die zur Linderung des Kopfschmerzes nach zu reichlichem Weingenuss vorteilhaft sein sollte. Der Dionysos mitrephoros galt als Erfinder dieser Methode [13]. In diesem Zusammenhang gewinnt der Heraklesknoten eine besondere Bedeutung, nämlich in der Anwendung als rituelles Heilmittel [14].
Die ikonographische Wahl für dieses Spendegefäß und dessen Form, eine Mischung aus Kantharos und Rhyton, ist bis jetzt einzigartig in Ephesos und auch an anderen Fundplätzen. Dieser Umstand spricht für sich. Er lässt darauf schließen, dass es für einen besonderen Gebrauch hergestellt wurde. Durch die Wahl des Materials ergibt sich allerdings eine gewisse Einschränkung. Für ein wahrhaft exklusives Modell ist Ton zu billig und einfach zu beschaffen und zudem beliebig häufig aus einer Matrize herzustellen. Die Gefäßform zählt jedoch nicht zum gängigen Repertoire des Tafelgeschirrs, dessen applizierter Dekor ebenfalls aus Matrizen gezogen wurde, und - wie auch unser Spendegefäß - vermutlich Metallvorbildern folgt.
In der Schichte B1 wurden auffallend viele Ganzgefäße vorgefunden [15]. Die umfangreiche Fundgesellschaft, in der sich das Kopf-Phallosgefäß befand, könnte man als Speise- und Symposiengeschirr bezeichnen. Mit diesem Gefäß wurde dann das Trankopfer aus ungemischtem Wein dargebracht, begleitet durch den Paian, mit dem das Symposion eingeleitet wurde [16].
Für welche Art von Symposion das Geschirr gedient hat, bleibt vorläufig fraglich. Der Datierung und dem Fundort des Materials nach zu schließen, könnte es von einem öffentlichen Symposion, das z.B. zu Ehren einer Delegation abgehalten wurde, stammen [17]. Warum das Geschirr in den Brunnen geworfen wurde - denn das Spendegefäß dürfte ja noch in gutem Zustand gewesen sein - kann vielleicht nach Vorlage des gesamten "Brunnenmaterials" und der eingehenden archäologischen Erforschung dieses Areals herausgefunden werden.

[1] Dankenswerterweise hat mir Reçep Meriç dieses Kopfgefäß aus seinem Fundmaterial zur Publikation überlassen.
[2] Diese Vermutung legt der Umstand nahe, dass der Brunnen von späthellenistischer Zeit an als Deponie benützt wurde.
[3] Die Ergebnisse der von W. Alzinger in der Basilika am Staatsmarkt durchgeführten Sondagen wurden leider nie publiziert. Dass das sog. Regierungsviertel zwischen den beiden Stadtbergen im oberen, östlichen Bereich der Stadt nicht gewachsen, sondern eine geplante Anlage ist, steht fest; als vorläufig spätestes Datum ihrer Errichtung nimmt man augusteische Zeit an. Daher die in Anm. 2 geäußerte Vermutung, dass der Brunnen aus der Verbauung vor der Errichtung des Staatsmarktes stammt.
[4] H. Vetters, Ephesos. Vorläufiger Grabungsbericht 1982, AnzWien 120 (1983) 118 Taf. X; ders., Ephesos. Vorläufiger Grabungsbericht 1983, AnzWien 121 (1984) 215 Taf. VI-IX.
[5] Die Publikation des Brunneninhaltes durch Reçep Meriç ist in Vorbereitung. Dankenswerterweise durfte ich Einsicht in das Manuskript nehmen, um mir einen Überblick über den Fundkontext zu verschaffen.
[6] Von der Rückseite gesehen sind Verlauf der Kopfbedeckung und Staufalten bei einer archaischen Terrakotta aus Olympia vergleichbar, einer Athena, die einen eng anliegenden Helm trägt, dessen Nackenschutz von einer Reliefleiste - ähnlich den Staufalten - eingefasst ist; E. Kunze, Terrakottaplastik, 6. Olympiabericht (1958) 171 Abb. 116.
[7] H. Hoffmann, Rhyta and Kantharoi in Greek Ritual, Greek Vases in J. Paul Getty Museum Malibu 4 (1989) 131 ff.
[8] Hoffmann ebenda.
[9] Maria Aurenhammer möchte ich an dieser Stelle für wertvolle Hinweise danken.
[10] J. Inan, Roman Sculpture in Side (1975) 112-114 Taf. 53, 1-4.
[11] Inan a.O. 114.
[12] H. Brandenburg, Studien zur Mitra (1966) 133 ff. Taf. 6.
[13] Brandenburg a.O. 85-86.
[14] Der neue Pauly 6 (1999) 618 s.v. Knoten (F. Graf).
[15] In der Schicht B1 fanden sich neben vielen ganzen Platten, Schalen und Bechern auch stark fragmentierte Stücke.
[16] Zu dieser Zeit wurde allerdings zwischen symposion und deipnon längst nicht mehr genau unterschieden; die rituelle Handlung der Libation blieb jedoch erhalten. G. Paul, Symposia and Deipna in Plutarch's Lives and in Other Historical Writings, in: W. J. Slater, Dining in a Classical Context (1991) 157 ff.
[17] Entlang der Südseite des Staatsmarktes verlaufen in etwa gleichen Abständen parallele Mauerzüge, die durchaus zu Banketträumen gehört haben könnten.

© Claudia Lang-Auinger, Wien
e-mail:
claudia.lang@oeaw.ac.at

This article will be quoted by C. Lang-Auinger, Ein Kopfgefäß aus dem Schachtbrunnen am Staatsmarkt von Ephesos, in: Altmodische Archäologie. Festschrift für Friedrich Brein, Forum Archaeologiae 14/III/2000 (http://farch.net).



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