Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 14 / III / 2000

DIE GRIECHISCHEN OSTRAKA DES INSTITUTS FÜR KLASSISCHE ARCHÄOLOGIE DER UNIVERSITÄT WIEN

Es bringt das chronologische Bewußtsein einigermaßen durcheinander, daß der geduldige Dr. Brein den Studenten der Klassischen Philologie, der die Pflichtprüfungen in der Klassischen Archäologie vorbereiten soll und hilflos nach den empfohlenen Büchern sucht, sie nicht findet und dann eben den Herrn Dr. Brein fragt ("Mach dich auf eine provokante Bemerkung gefaßt, aber warte nur ohne Gegenkommentar, er bringt dir dann doch alles, und viel mehr" war so einer der Verhaltens- und Erwartenstips im Kommilitonenkreis), der der Universität aus Altersgründen den Rücken zukehren will. Auch wenn dies geschieht, Breins witzig, immer zum kritischen Nachdenken ("Wie hat er das bloß wieder gemeint?") anregendes, vor allem aber hilfreiches Wirken am Institut bleibt für viele Generationen unvergessen und wird sich wohl als Desiderat zeigen. Und unter seinen mit den Büchern immer so behutsam umgehenden Händen liegen auch zwei griechische Ostraka, die er schon vor mehr als einem Jahrzehnt zur Bearbeitung angeboten hat. Und auch hier ist die Zeit der eigenen Leistungsfähigkeit auf und davon gerannt. Sie hier und zu diesem Anlaß nun endlich zu edieren, mag als zeitgerecht erscheinen. Aber wie wird's Brein kommentieren?

Auf den Inventarbögen ist bei beiden Ostraka vermerkt: "Tonscherbe mit griechischer Inschrift, wahrscheinlich aus Ägypten. 26.1.1937 Geschenk von Prof. Eugen Oberhummer." [1]

1. Kopie einer Kornspeicherquittung

Archäologische Sammlung, Inv.Nr. 1046; 10,3 x 13 cm; 11.6.101 n. Chr.

Dunkelbraune Tonscherbe, innen geschwärzt. Im unteren, unbeschrifteten Fünftel stärker gekrümmt, geringe Schriftverluste. Die bereits stark abblätternde Oberfläche konnte durch konservatorische Maßnahmen erhalten bleiben (Abb. 1).


Abb. 1: Kopie einer Kornspeicherquittung; Wien, Archäologische Sammlung Inv.Nr. 1046 (Photo C. Kneringer)

"Kopie der Quittung des Tempelthesaurus der unteren Toparchie für die Ernte des 4. Jahres des Kaisers Trajan, des Herrn, 17. Pachon. Petechonsis, Sohn des Psenamunis, decanus, durch Hilarios, Sohn des Pekysis, Enkel des Perusios, (hat bezahlt an Weizen zwei ein halb ein Drittel ein Zwölftel (Artaben), das macht 21/21/31/12 (Art.). Ich, Apollonios, habe unterschrieben."

Auf Quittungen, die als antígraphon apoch(ês) bezeichnet sind, machte schon U. Wilcken aufmerksam [2]. Durch die Subskription ist deutlich gemacht, daß die Abschrift als amtliches Dokument zu verstehen ist. Diesen Schluß zieht Wilcken [3]. Die ersten vier Wörter dieses Ostrakons sind von einer anderen Hand als der eigentliche Quittungstext geschrieben. Es liegt die Vermutung nahe, daß man im Tempelthesaurus auf solche Duplikate vorbereitet war. Dem vollständigen eigentlichen Quittungstext gehen alternativ zwei einleitende Formeln voraus:
a) antígraphon apochês hês kaì állote exedómen [4].
b) antígraphon apochês [5]. Die vorliegende Quittung macht mit einer um die ausstellende Institution erweiterten Formel erstmals bekannt.
Die meisten Quittungen des gleichen Schemas beginnen mit métrema thesauroû hierôn [6]. Die kürzere Form, in der métrema eingespart ist, begegnet selten [7].
Eine Zahlung an den thesauròs hieratikôn káto toparchías liegt auch in O.Bodl. II 1185 vor. Als Herkunft des Ostrakons erwägen die Editoren "West Bank (?)".

Kommentar
1. Vor antígraphon ist der Ansatz zu einem nicht ausgeführten Alpha (?) zu sehen.
2. Das Theta von thes war sehr groß ausgeführt; es ist jetzt nur mehr teilweise erhalten. Bis inklusive hier wirkt die Schrift eckig, älter, der augusteischen Zeit verwandt. Ohne Zweifel ist dies von einer anderen Hand geschrieben. Die zweite Hand dagegen zeichnet sich durch abgerundete, wesentlich weniger deutliche Buchstabenformen aus. Sie ist ungleich schwieriger zu lesen.
3. Der Kaisername ist, wie vieles auf diesem Ostrakon, auf dem Bild sicherer zu lesen als auf dem Original.
4. Die Form des Pi in Payni ist keine "Normform". Es ist zu vermuten, daß diese eigenwillige Gestalt dadurch entstand, daß dem Schreiber wegen einer Unebenheit auf der Tonscherbe der erste vertikale Strich mißlungen ist, er seine Berichtigung einfach darüberschrieb, wodurch nun ein Chi dazustehen scheint.
Petechô(nsis) ist nur eine, wenn auch sehr oft belegte Namensform, die sich für die Auflösung e. g. anbietet. Dieser Mann, der dékanos (s. dazu Anm. zu Z. 5) ist, konnte in keinem anderen Text mit sicherer Identifizierung gefunden werden [8].
5. Das übliche Symbol für dékanos begegnet nach den Beobachtungen von J. G. Tait und Cl. Préaux in Kornsteuerquittungen nur in der Zeit Nervas und Trajans [9]. Hileris: Wenn man statt Lambda, was leicht möglich ist, ein Alpha liest, ist man mit dem unbezeugten (und nicht leicht akzeptablen) Namen Hiaeris konfrontiert. Lectio difficilior praeferenda?
Pekys: Kappa ist undeutlich, verschleifft geschrieben. Überdeutlich dagegen der Kürzungsstrich. Eine andere Lesung ist nicht ausfindig zu machen. Der Name Pekysis ist überaus oft attestiert.
Peroúsio(s): Die Lesung ist eindeutig. Der seltene Personenname ist nur noch im Ostrakon O.Tait C 12 (2. Jh. v. Chr.) bezeugt; man kann auch in den in Ostraka begegnenden Namen Poroúsios (Nom.) zum Vergleich heranziehen [10].
6. 7. Wie in Quittungen auf Ostraka geläufig, ist die Maßeinheit für Weizen (die Artabe) ausgelassen. Belege für die weggelassene Maßeinheit sind zahlreich [11].

2. Badesteuerquittung

Archäologische Sammlung, Inv.Nr. 1047; 10,4 x 7 cm; 25.2.146 n. Chr.; Theben (?)

Die dunkelrotbraune Tonscherbe ist in einer zierlichen, sehr geübten kursiven Schrift beschrieben. Die Tinte ist schwarz. Die leicht gerippte Innenseite ist unbeschrieben. Stellenweise hat die Tinte leichten Abrieb erlitten. Der Monatsname der Datierung ist dadurch nur in geringen Teilen erhalten und entsprechend unsicher gelesen. Über die gesamte Fläche verteilt glitzern Goldsplitter, die unter dem Mikroskop ganz deutlich zu sehen sind.


Abb. 2: Badesteuerquittung; Wien, Archäologische Sammlung Inv.Nr. 1047 (Photo C. Kneringer)

"Peteesis und die Kollegen, Pächter des Tempelthesaurus, an Psenmonthes, Sohn des Petosiris. Wir haben erhalten die Badesteuer des 9. Jahres des Kaisers Antoninus, des Herrn, am 1. Phamentoth. Ich, Peteesis habe durch Petem- unterschrieben." [12]

Das Schema dieser Quittung ist aus vielen Beispielen bestens vertraut [13]. Das Formular und seine thebanische (hermonthitische?) Herkunft analysiert Wilcken [14]. Diesem Formular, das die Steuerpächter, die telônai thesauroû hierôn, verwenden, haftet die Besonderheit an, daß nahezu konsequent die kassierte Steuersumme ungenannt bleibt [15].

Kommentar
1. Petee(sis) ist zwar nicht die einzige Möglichkeit, den Namen aufzulösen, aber die gängigste. Ein Thesauruspächter dieses Namens aus dieser Zeit und aus Theben konnte in den Ostrakapublikationen nicht gefunden werden.
2. Psenmonth: Epsilon erweckt bei flüchtiger Betrachtung, ein Rho zu sein, da der Mittelstrich zum größten Teil verblaßt ist. Lediglich der Ansatz im etwas eng geratenen Bogen ist deutlich, wodurch das Bild einer kleinen Schlinge entsteht. Das hochgestellte Theta ist aus der Schreibbewegung heraus offen, einem Alpha ähnlich, geworden. Zum Namen vgl. gegenüber der üblichsten Form Psenmónthes [16] die seltenen Schreibweisen Psenmónthe, Psenmoûthis, Psenmoûnthis [17]. Ihr Vorkommen ist auf die römische Zeit beschränkt. Petosirio: pe sind so verschleifft geschrieben, daß man leicht pt lesen könnte, was zu ungewöhnlichen Namen führen würde. Das rechte Bein des Pi geht direkt in den linken Teil des Epsilon über, dessen gespaltene Schreibweise auf Ostraka (und Papyri) römischer Zeit gleichsam Standard ist. Zu pe in dieser Schreibweise vgl. auch Z. 5 und 6. Sigma ist nur in schwachen Spuren nachvollziehbar.
4. Der Monatsname ist auf dem Original "unlesbar". Auf dem Photo ist ein Theta nachvollziehbar, klarer ein Epsilon und ein waagerechter Strich vor der Tageszahl, der einem Theta zuordenbar ist.
Petem[..]-: pe wie in Z. 2 und 4. Wie Petem- zu ergänzen und aufzulösen ist, muß in Anbetracht der vielen Möglichkeiten [18] offen bleiben.
sesem: Eta ist in der Weise geschrieben, in der es als letzter Buchstabe ein abgekürztes Wort signalisiert. Die Schriftspur, die nachfolgt, kann kaum etwas anderes als ein My sein.

[1] Die Ostraka restaurierte Andrea Bacher, damals Kunsthistorisches Museum. Vor allem das Ostrakon Nr. 1 (Inv.Nr. 1046) wurde dadurch vor dem weiteren Zerfall bewahrt. Photos stellte Alfred Janderka, ÖNB, her, die für die Entzifferung überaus hilfreich waren. Vor Irrtümern bewahrte mich Pieter J. Sijpesteijn.
[2] U. Wilcken, Griechische Ostraka aus Ägypten und Nubien (Berlin 1899) I 86f.; weitere Belege z. B. O.Leiden 258, O.Bodl. III Index XIII s. v. antígraphon.
[3] Wilcken ebenda.
[4] s. z. B. O.Bodl. II 549. 854. 1136. 1540. 1666.
[5] s. z. B. O.Bodl. II 949. 1179. 1192. 1305. 1696.
[6] vgl. O.Bodl. III Index XIII, S. 245.
[7] s. z. B. O.Bodl. II 1185. 1188. 1189.
[8] vgl. aber O.Bodl. II 688 (9.5.105 n. Chr.), eine Quittung für Petechó(nsei) Petechó(nsios) Psenamo(únios). Es ist möglich, daß der Steuerzahler des neuen Ostrakons der Vater des Steuerzahlers im Ostrakon O.Bodl. II 688 ist.
[9] s. O.Bodl. II 1190, 4 Not. Zur Funktion eines dékanos im Zusammenhang mit dem Thesaurus s. zuletzt A. López García, P.Flor. III 388, Analecta Papyrologica 8-9 (1996-1997) 163f. col. IX 5.
[10] Für den Wechsel zwischen Epsilon und Omikron vgl. F. T. Gignac, A Grammar of the Greek Papyri of the Roman and Byzantine Periods (Milano 1976) I 289ff.
[11] z. B. O.Leiden 186ff.
[12] Zur Badesteuer vgl. die Darstellung bei Wilcken a. O. (Anm. 2) I 165-170; Milne, O.Theb. S. 99-101; O.Oslo S. 22ff.; S. LeRoy Wallace, in: Egypt from Augustus to Diocletian (Princeton 1938) 155-159; Préaux, O.Wilb. S. 40-4; R. Ginouvès, Balaneutikè, Recherches sur le bain, dans l'antiquité grecque (Paris 1962). Neuere Literatur bei B. C. McGing, P.Dub. 17 (S. 97) mit Nachträgen von A. Papathomas, in: P.Heidelberg VII 393, S. 46 Anm. 14.
[13] vgl. im besonderen O.Bodl. II 670-737.
[14] Wilcken a. O. (Anm. 2) I 80-87.
[15] Wilcken a. O. (Anm. 2) I 615f.
[16] Die Belege bei F. Preisigke, Namenbuch (Heidelberg 1922).
[17] Belege bei Preisigke a. O.
[18] s. Preisigke a. O.

© Hermann Harrauer, Wien
e-mail:
harrauer@grill.onb.ac.at

This article will be quoted by H. Harrauer, Die griechischen Ostraka des Instituts für Klassische Archäologie der Universität Wien, in: Altmodische Archäologie. Festschrift für Friedrich Brein, Forum Archaeologiae 14/III/2000 (http://farch.net).



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