Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 14 / III / 2000

NEUE KERAMIK AUS ERETRIA

In den letzten Jahren hat das Interesse für die Kunst der Insel Euböa deutlich zugenommen. Sei es, daß das neue Museum in Eretria, das im Jahre 1991 seine Säle geöffnet hat, durch die hervorragende Präsentation seiner Objekte die Fachleute, aber auch Laien, angezogen hat, sei es, daß die Bedeutung neuer Funde Anerkennung fand, sei es aber letzten Endes auch, daß sich die Einstellung zur euböischen Kunst gewandelt hat. Hat E. Pfuhl die Werke euböischer Künstler noch als letztklassig, unselbständig und minderwertig bezeichnet [1], so findet man jetzt zunehmend Gefallen an der euböischen Keramik. Es mag mit dem Zeitgeist zusammenhängen, daß wir heute auch Imitationen, Nachschöpfungen, Kopien und Modifikationen als künstlerische Leistung anerkennen und derartige Manifestationen nie a priori als minderwertig bezeichnen würden. Dazu kommt, daß Euböa kräftige Lebenszeichen in Publikationen von sich gibt. So fand ein bedeutender Kongreß über euböische Kunst im November 1996 in Neapel statt, über dessen Ergebnisse ausführlich berichtet wurde [2]. Im Vergleichszeitraum von vier Jahren wurden vor allem im Bereich des Apollon Daphnephoros-Tempels keramische Funde gemacht, die zum Teil noch nicht wissenschaftlich bearbeitet und publiziert sind und die daher mit einem Photographieverbot belegt sind, welches ich selbstverständlich respektiert habe.
Es handelt sich im wesentlichen um vier Krüge, die aufgrund ihrer stilistischen Eigenheiten zeitlich und örtlich eingeordnet werden können.

Spätere Keramik vom Apollon Daphnephoros-Tempel:

1.) Krug mit hohem Hals aus Eretria, Eretria Mus. ME 16681 (Abb. 1-2)
spätprotokorinthisch (um 650 v. Chr.)

Abb. 1-2: Krug mit hohem Hals aus Eretria, Eretria Mus. ME 16681 (Photo Verf.)

Ein Krug aus einer relativ späten Phase des Tempels. Die Form des Gefäßes folgt der Tradition der verbreiteten geometrischen, fußlosen Krüge mit hohem Hals und breiter Öffnung. Diese Form reicht auch in der attischen Keramik bis in die Mitte des siebenten Jahrhunderts, um dann nach einer Pause neuerlich im Kerameikos um 600 v. Chr. bei einem schwarzfigurigen Gefäß aufzutreten [3]. Der Krug ME 16681 hat einen hohen, schlanken Hals mit einer schmalen, abgesetzten Lippe, einen kurzen, leicht gewölbten Bauch und einen konischen Fuß. Der Henkel ist abgebrochen. Der Ton ist ockergelb. Am Fuß finden sich geringe, dünklere Firnisspuren. Die ornamentale Dekoration ist primitiv und ungelenk. Sie besteht nur aus plumpen, horizontalen Strichen im figuralen Bildfeld und vertikalen Strichen sowohl am Gefäßrand als auch im Bereich des Gefäßkörpers. Typische Füllornamente, wie Rauten oder Rosetten fehlen. Der figurale Dekor zeigt drei, in rote Mäntel gekleidete Frauen. Deren Gesichter wirken karrikaturhaft. Die Augen werden als große Kreise, die Pupillen als zentrale Punkte wiedergegeben. Das Haar ist schwarz und wird lang getragen. Zwei gegenüberstehende Frauen werden bei der Übergabe einer Blüte gezeigt. Es handelt sich sicher um die Produktion einer lokalen Werkstätte.

Zwischen dem Krug ME 16681 und dem Krug Louvre CA 2365 besteht eine enge stilistische Verwandtschaft.

2.) Krug mit hohem Hals aus Euböa, Louvre CA 2365 [4] (Abb. 3)
orientalisierender Stil (Mitte 7. Jh. v. Chr.)

Abb. 3: Krug mit hohem Hals aus Euböa, Louvre CA 2365 (nach CVA Paris, Louvre [17] Taf. 48, 1-3)

Über die Herkunft des Kruges gibt es keine Nachricht, es spricht aber vieles dafür, daß er aus Eretria ist. Die ornamentale Dekoration ist primitiv. Der Henkel, der vom Gefäßrand bis zur Basis reicht - der Abstand wird mit einer Querstütze überbrückt -, zeigt eine Transversalstreifung. Der konische Fuß und der kugelförmige Bauch sind schwarz gefirnißt. Darüber finden sich auf dem hellen Grund der Schulter grobe Klecksrosetten. Am schlanken Hals bildet der vertikale Spiraldekor ein Gegengewicht zu einer aufgerichteten Schlange, ein Motiv, das sehr ungewöhnlich ist. Figural sind zwei Frauen dargestellt, die in weite, mit weißen Punkten und Rosetten verzierte Schultermäntel gekleidet sind. Eine Frau hebt den Arm im Adorationsgestus gegen die aufgerichtete, züngelnde Schlange. Die Zeichnung ist ebenso primitiv und fast karrikaturhaft, wie jene auf dem Krug ME 16681 und sie wurde sicher von einem Maler gemalt, der sich mit der schwarzfigurigen Zeichentechnik noch nicht ausreichend vertraut gemacht hatte. Im übrigen hat er bei einer der beiden Frauen vergessen, die Füße zu malen. Die Füße der anderen Frau sind sehr grazil. Sie steht auf den Zehenspitzen, was einen Tanzschritt andeuten könnte. Insofern würde sich ein Reigen oder ein Tanz nicht mit dem Bildprogramm jener Krüge decken, die in jüngster Zeit im Bereich des Daphnephoros-Tempels ausgegraben wurden, die anscheinend die Bedeutung einer Kulthandlung haben, und bei denen eine Schlange fehlt.

Das zweite Gefäß aus dem Museum in Eretria ist jener neue Krug, der wohl im Museum ausgestellt aber wissenschaftlich noch nicht aufgearbeitet ist und daher nicht photographiert werden durfte.

3.) Krug mit hohem Hals aus Eretria, Eretria Mus. ME 16693
Die Form und die Tonqualität stimmen mit dem Krug Eretria ME 16681 weitgehend überein, nur ist der Krug Eretria ME 16693 etwas größer. Die Lippe ist eingebrochen. Der konische Fuß ist auffallend klein. Darüber wölbt sich der kugelförmig aufgetriebene Bauch, auf dem der hohe, schlanke Hals aufsitzt. Die ornamentale Dekoration ist reichhaltiger als bei dem Krug Eretria ME 16681. An den erhaltenen Stellen der Lippe sieht man schwarze, vertikale Balken. Auf dem Hals findet sich ein Leitersystem mit strahlen- und sternförmigen Rosetten, das nach unten zur Schulter mit einer doppelten, horizontalen Umlauflinie abgeschlossen ist. Zwischen der Schulter und dem kugelförmig aufgetriebenen Bauch zeigt sich ein schmaler Doppelwinkel (S)-Fries, nach unten wieder eingegrenzt durch eine doppelte Umlauflinie. Den Bauch schmückt hauptsächlich ein breites Band von vertikalen, bichromen, roten und schwarzen, im Verhältnis zwei zu eins angeordneten, doppelt konturierten Balken. Der konische Fuß ist abgegrenzt durch zwei rote, horizontale Umlauflinien. Darunter finden sich radiäre Striche. Der figurale Dekor besteht aus zwei gegenüberstehenden Frauen, an jeder Seite der leiterförmigen Dekoration. Bei einer Frau, die einen roten Schultermantel mit Randschlingen und einen schwarzen Chiton trägt, ist das Gesicht kaum mehr zu erkennen. Hinter ihr steht eine kleine, weibliche Gestalt, vielleicht ein Mädchen (?), die einen Ast in den Händen hält, dessen Zweige zu Boden gerichtet sind. Dieser Krug ist, wenn auch ziemlich beschädigt, reich dekoriert und paßt mit seinem Bildprogramm in das Schema der Daphnephoros Vasen.

Ein weiterer Krug wirkt im Strich sicherer, in der Farbgebung kompakter.

4.) Krug mit hohem Hals aus Eretria, Eretria Mus. ME 16572 (Abb. 4-5)
spätprotokorinthisch (um 650 v. Chr.)



Abb. 4-5: Krug mit hohem Hals aus Eretria, Eretria Mus. ME 16572 (Photo Verf.)

Bis auf Einbrüche der Lippe ist der Krug gut erhalten und sehr reich und farbig dekoriert. Er besitzt einen Henkel, der vom Rand bis zur Schulter ohne Querstütze reicht und mit einer Doppellinie verziert ist, einen konischen Fuß, einen gebauchten Körper und einen hohen, schlanken Hals mit abgesetzter Lippe. Auf der Lippe sind schwarze, radiäre Striche, die oben in dicken Punkten enden. Unter der schwarzen, horizontalen Umlauflinie, die das figurale Dekor nach unten abschließt, finden sich auf dem Tongrund der Schulter grobe, verschränkte Haken. Darunter sind auf dem Bauch und am Fuß breite, verschiedenfarbige Bänder und einzelne, weiße Punktrosetten gemalt. Der figurale Dekor besteht aus zwei, nach rechts schreitenden, schwarzhaarigen Frauen. Sie sind in lange, rote Mäntel gekleidet, die mit großen, weißen Punktrosetten geschmückt sind. Der Krug stammt aus der späten Phase des Daphnephoros-Tempels und ist eine lokale Produktion.

Mit den dargestellten Krügen, von deren Art es mehrere neue Funde gibt, da die Grabungen um den Apollontempel nicht abgeschlossen sind, steht eine "Euböische Amphore" in enger stilistischer Verwandtschaft [5].

5.) Euböische Amphore, aus Eretria auf Euböa, Athen NM 12129 (Abb. 6-7)
spätprotokorinthisch (620/600 v. Chr.)

Abb. 6: Euböische Amphore, Gesamtansicht, Athen NM 12129 (nach E. Simon, Die griechischen Vasen [1981] Taf. VI)

Abb. 7: Euböische Amphore, Halsbild, Athen NM 12129 (nach E. Simon, Die griechischen Vasen [1981] Taf. VI)

Das große, vom Dekor her altertümlich wirkende Gefäß ist eine "Euböische Amphore" aus Eretria. Sie ist zusammengesetzt, da der Fuß nach Analogie zu anderen Amphoren vom gleichen Fundort ergänzt worden ist. Die Höhe beträgt mit dem restaurierten Fuß 75 cm. In archaischen Gräbern von Eretria wurden große Amphoren "orientalisierender Form" gefunden, die von J. Boardman als "Orientalisierende Serie: Gruppe C" [6] bezeichnet wurden und die jenen Amphoren aus Böotien und von den Kykladen ähnlich sind, welche Frauen als Orantinnen zum Thema haben. Es ist nur die Vorderseite figural dekoriert, während auf der Rückseite die typischen, "eretrischen Schlingenornamente" zu finden sind [7]. Umrißzeichnung und reiche Verwendung von Purpurrot sind für die eretrischen Vasen charakteristisch.
Es handelt sich um eine Bauchhenkelamphora mit hohem Hals und konischem Fuß. Die Lippe ist mit nach unten weisenden Dreiecken in der Abfolge schwarz-rot, schwarz-weiß geschmückt. Auf dem Halsbild sind drei Frauen in weiten, roten Mänteln dargestellt, wobei zwei Frauen nach rechts gehen und anscheinend einer dritten Frau, die sich nach links wendet, Zweige überreichen. Es dürfte sich hier also um die gleiche Kultszene handeln wie auf den Krügen [8]. Zu denken wäre an einen Kult des Apollon Daphnephoros mit der Überreichung von Zweigen [9]. Die Gesichter der Frauen sind bereits ausdrucksvoller und gekonnter gezeichnet. Die Augen sind kräftige Punkte und auch die Ohren und Augenbrauen sind gut wiedergegeben. Die Gesichter und Röcke der Frauen sind in Umrißzeichnung dargestellt, während die kurzen Mäntel silhouettenhaft als homogene Flächen erscheinen. Über das gesamte Hauptbild, das eine große, stehende Sphinx zeigt, sind gleichmäßig Punktrosetten verstreut.
Die euböischen Krüge vom Daphnephoros-Tempel zeigen eine naive, volkstümliche Dekoration, die in ihrer lebendigen Farbgebung von eigenartigem Reiz ist. Wenn die Beschäftigung mit euböischer Keramik manchmal auch frustrierend und quälend sein kann, da man es meist mit weit verstreuten Exponaten und mit Fragmenten zu tun hat, so besteht doch die Faszination dieser Beschäftigung in der Vielseitigkeit und in der frischen Individualität, die sich in diesen Werken findet.

[1] Pfuhl, MuZ I 205.
[2] Euboica, L'Eubea e la presenza euboica in Calcidica e in Occidente. Atti del Convegno Internationale di Napoli 13-16 novembre 1996, Collection du Centre Jean Bérard 16 (1998).
[3] J. D. Beazley, The Ceramicus Painter, Hesperia 13, 1944, 43 Nr. 1, Athens, Kerameikos Museum.
[4] CVA Paris, Louvre (17) CA 2365 Taf. 48, 1-3, unbekannter Herkunft; J. Boardman, Pottery from Eretria, BSA 47, 1952, 27, C12; J. Boardman - F. Schweizer, Clay Analysis of Archaic Greek Pottery, BSA 68, 1973, 276 n. 19: "(25) Oxford 1971.901, The shape is represented by three other vases which, on other stilistic grounds, appear to be Eretrian".
[5] Boardman a. O. 21f.: "The scenes of standing female figures, invariable on the neck and occurring once on the body (C2) of amphorae, are characteristic of Group C". "In Group C only the front is decorated with figured scenes, while the back is covered with characteristic Eretrian loop ornament. On Attic vases types ‚a' and ‚b' are rare, only type ‚g' is at all common. Nilsson suggested that Athens learned the motif from Eretria, but the only type ‚g' at all common on Attic vases appears there long before it is used in Eretria. Only Eretrian painters use these motifs regularly on such a scale, and they may even have adopted the idea independently of Corinth or the East."; E. Simon, Die griechischen Vasen (1981) 46 Taf. 6; G. Nicole, La Peinture des Vases Grecs (1926) Taf. 6: "Amphore de la fabrique d'Eretrie (VIIo siècle)", Löwenamphore.
[6] Boardman a. O. 27 C6 Taf. 6, Athen NM 12129.
[7] Ders. a. O. 22 Abb. 20.
[8] E. Simon erinnert im Zusammenhang mit der "Kulthandlung" an den "magischen Zweig" in Vergils Aeneis VI, v. 630: "Neben den Eingang (des Palastes der Proserpina, Anm. Verf.) trat Aeneas, sprengte mit frischem Wasser den Leib: schon haftet der Zweig am Pfosten der Schwelle." Miniaturen im Codex Vergilius Vaticanus.
[9] Roscher, ML I 432: Apollon wird als Schutzgott der Ernte verehrt. "Erwägt man die Bedeutung des Apollon als Erntegott und die Verbindung der Begriffe der Ernte und des Friedens, so wird man es wahrscheinlich finden, daß ‚sowohl die sämtliche apollinische Daphnephorie als die Verwendung des bekränzten Ölzweigs zum Bittzweig (Hiketeria) der um Frieden und Schutz Flehenden und zum Stabe des Frieden heischenden Herolds' aus dem Kreise der in der Eiresione verkörperten Vorstellungen hervorgegangen sind."

© Rudolf Fenzl, Wien

This article will be quoted by R. Fenzl, Neue Keramik aus Eretria, in: Altmodische Archäologie. Festschrift für Friedrich Brein, Forum Archaeologiae 14/III/2000 (http://farch.net).



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