Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 14 / III / 2000

ÜBER DIE QUADRATUR KREISFÖRMIGER HEILIGTÜMER DER KYPRISCHEN BRONZEZEIT

(Nicht nur) in der Archäologie zeigt sich bisweilen das seltsame Phänomen, dass eine anfänglich unverbindliche Vermutung im Laufe der Zeit durch ständiges Wiederholen und Zitieren zu einer unverrückbaren Tatsache geadelt wird. Ein Paradebeispiel für dieses Phänomen liefert die Interpretation eines Modells aus einem frühbronzezeitlichen Grab aus Vounous. Das Objekt wird seit seiner Erstpublikation als verbindlicher Hinweis darauf angesehen, dass gegen Ende der frühen Bronzezeit runde offene Temene auf Zypern errichtet wurden [1]. Als einziger "Beleg" für eine "sakrale Architektur" dieser Zeit wurde es zum Ausgangspunkt für extensive religionshistorische Spekulationen.

Das Vounous-Modell

Das Modell (Abb. 1), eine "szenische Komposition" in Red Polished Ware, stammt aus Grab 22 der Nekropole von Vounous, aus dem es in fragmentiertem Zustand zu Beginn der dreißiger Jahre, zusammen mit weiterer Red und Black Polished Ware sowie einigen wenigen Bronzeobjekten, geborgen wurde [2].


Abb. 1: Das Vounous-Modell: Ansicht von oben (nach P. Dikaios, The Excavations at Vounous-Bellapais in Cyprus, 1931-2, Archaeologia 88 [1940] Taf. VII)

Es hat die Form einer Schüssel mit flachem Boden, unter deren Handgriff sich eine große Öffnung befindet. Ein reiches Figureninventar füllt den Innenraum, links und rechts von der Öffnung liegen Viehpferche mit jeweils zwei Rindern. Direkt gegenüber befindet sich eine "Bukranienwand" aus drei mit Querstücken verbundenen Balken, die ursprünglich wohl gehörnte Schädel trugen [3]. Zwischen den vertikalen Balken hängen schlangenförmige plastische Elemente herab, eine kleine gekurvte Bodenerhebung setzt den Bereich der "Bukranienwand" von seiner Umgebung ab.

Abb. 2: Das Vounous-Modell: Ansicht vom "Eingang" her (nach P. Dikaios, The Excavations at Vounous-Bellapais in Cyprus, 1931-2, Archaeologia 88 [1940] Taf. VIII unten)

Abb. 3: Das Vounous-Modell: der Kreis der Männer und die "thronende" Figur (nach P. Dikaios, The Excavations at Vounous-Bellapais in Cyprus, 1931-2, Archaeologia 88 [1940] Taf. VIII oben)
Der größere Teil der Figuren wird durch eine Geschlechtsangabe als männlich ausgewiesen, lediglich eine Figur mit Kleinkind vor einem der Viehpferche wird wohl definitiv als Frau anzusprechen sein Punkt heraus (Abb. 2). Die verschiedene Größe der Figuren legt eine Bedeutungsproportionierung nahe, so sind eine (männliche) Gestalt mit einer speziellen Kopfbedeckung [4] auf einem "Thron" gegenüber der "Bukranienwand" und einige der seitlich von dieser auf Bänken Sitzenden deutlich größer als die anderen dargestellt. In der Mitte befindet sich eine kreisförmig angeordnete Gruppe von sechs stehenden Gestalten Punkt heraus (Abb. 3). Auffällig ist, dass nahezu alle Figuren die Arme - wie es scheint in feierlicher Ruhe - verschränkt halten, Ausnahmen bilden lediglich eine vor der "Bukranienwand" kauernde kleine Figur und eine weitere Gestalt, die rechts vom Eingang von außen über die Wandung blickt.

Die erste umfassende Interpretation durch P. Dikaios und ihre Rezeption

Nachdem er schon zuvor mehrmals zum Modell Stellung genommen hatte, legte Dikaios 1940 eine detaillierte Interpretation vor [5]: Danach handelt es sich um die Darstellung eines kreisrunden Temenos, das von einer niederen Mauer umgeben ist. Die Figuren verkörpern Teilnehmer einer religiösen Zeremonie. Die drei vertikalen Balken der "Bukranienwand" sind Idole chthonischer Gottheiten, die "Schlangen" deren Attribute. Gleichzeitig repräsentieren die Balken wegen der Tierschädel aber auch Aspekte einer Stier- und ergo dessen Fruchtbarkeitsgottheit.
Dikaios' Erklärungsansatz blieb für lange Jahre richtungsweisend. Ob Fruchtbarkeitskulte, Muttergöttin, Kinderopfer, Schlangen- oder Stierdämonen: der Interpretationsspielraum wurde in der Folge nur durch die Grenzen der Phantasie des jeweiligen Autors beschränkt. In einigen Fällen handelte es sich wohl um eine Art von bedingtem archäologischen Reflex, einen Widerhall der paläo-evolutionistischen Frazer'schen Vegetations-, Fruchtbarkeits- und Jahresgötter der Schule von Cambridge, welche vom England des späten 19. Jhs. n. Chr. aus die Götterwelt des mediterranen Altertums bevölkerten. Ein sorgfältig eingelernter Reflex, basierend auf einer weitverbreiteten Denkschule, deren Methode darin bestand, angesichts bestimmter Schwellenreize (z. B. der Darstellung von Rinderhörnern oder Frauen mit Kleinkindern) unwillkürlich Begriffe wie "Stiergott, der die Fruchtbarkeit verkörpert", "Große Göttin", "Heilige Hochzeit" oder "primitiver Vegetationskult" zu assoziieren und diese Assoziation eo ipso schon für eine Art von Beweis anzusehen.
Bereits in Dikaios' Interpretation wurde auch ein kontextueller Bezug zum Fundort hergestellt. Ein "chthonischer Fruchtbarkeitskult" gilt dem Verstorbenen, der, hier zitiert Dikaios R. Dussaud [6], eventuell durch die thronende Figur gegenüber der "Bukranienwand" repräsentiert wird. Andere verlegten die Handlung dann von einem offenen Temenos ins beengte Innere eines Grabes [7], daneben wurde auch die Darstellung von Begräbnisritualen, die außerhalb eines Grabes in einer kreisförmigen Einfassung stattfinden, vorgeschlagen [8].

Kritikpunkte

Rückblickend lässt sich feststellen, dass Dikaios vor dem Hintergrund und mit Hilfe einer konsequent hypothetischen religionshistorischen Theorie eine ebenso konsequent realistische Auffassung des Vounous-Modells vorlegte. Das Modell besitzt niedere Seitenwände und zeigt keine Indizien für ein Dach - also muss es sich um ein offenes Temenos handeln. Die Grundform des Modells ist rund - also muss es sich um ein kreisförmiges Temenos handeln. Adäquat zu den "architektonischen" Zügen wird auch das Geschehen aufgefasst: es wird eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung postuliert. Vorbild für die Darstellung bildet demnach ein real vor sich gehendes Ereignis in einem real existierenden Bauwerk.
Gegen diesen Ansatz ist zum einen hervorzuheben, dass (obwohl im Neolithikum und im Chalkolithikum runde oder zumindest annähernd runde Häuser die Siedlungen dominieren) es nach wie vor an Belegen für solche (nach oben offene oder geschlossene) Bauformen in der frühen Bronzezeit mangelt! Schon Dikaios musste einräumen, dass die ergrabenen früh- und mittelbronzezeitlichen Befunde ausschließlich auf rechteckige Bauformen hinweisen [9], neuere Siedlungsgrabungen haben diesen Umstand nachhaltig bestätigt [10]. Dem begegnete Dikaios mit dem auch von V. Karageorghis wieder aufgenommenen Argument, dass für die sakrale Architektur jener Zeit eben andere Gesetzmäßigkeiten als für die profane gegolten haben mögen [11]. Das Problematische an diesem Argument ist, dass es vor dem Einsetzen der späten Bronzezeit kaum verbindliche Befunde gibt, die eine solche Trennung eindeutig widerspiegeln [12]. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass es vom Neolithikum über das Chalkolithikum eine allgemeine Tendenz gibt, kultische Aktivitäten (hier vor allem das Totenbrauchtum) vom privaten in den öffentlichen Raum (Begräbnisse außerhalb der Wohnbauten) zu verlegen [13], auch kommt es schon früh zu einer Differenzierung funktionaler Aspekte einzelner Häuser [14]. Aber eindeutig als sakral definierbare bronzezeitliche Architektur ist bislang erst ab der späten Bronzezeit nachweisbar und, wie die kontemporäre Siedlungsarchitektur, rechteckig ausgelegt. Als Beispiele für die Kontinuität von Heiligtümern in neolithischer Rundbauweise bis in die Eisenzeit werden für gewöhnlich Ayia Irini und Ayios Iakovos angeführt. Die archäologischen Befunde bestätigen eine solche Kontinuität jedoch nicht. In Ayia Irini wird ein rechteckiges spätbronzezeitliches Temenos erst in der Eisenzeit durch eine weit bescheidenere, diesmal annähernd ovale Anlage ersetzt [15]. Einen Sonderfall unbestimmter Aussagekraft bildet auch der (nur unter großzügiger Auslegung geometrischer Definitionen als kreisförmig zu bezeichnende) "Kultplatz" in Ayios Iakovos [16]. Er zeigt zwar Hinweise auf kultische Aktivitäten, diese sind allerdings eher als eine one-off operation unbekannten Zweckes anzusehen (evtl. besteht ein Zusammenhang mit einem nahegelegenen Friedhof), denn als ein Hinweis auf ein kontinuierliches Kultgeschehen in einem Heiligtum [17].

Der zweite Einwand bezieht sich auf die postulierte Einheit von Handlung, Ort und Zeit: "The coroplast was no doubt imaginative, and he/she certainly intended to represent a specific scene happening at a certain place and time."[18] In dieser Auffassung des Modells wird Gleichzeitigkeit gleichsam axiomatisch vorausgesetzt. Die Inkonsistenz vieler Interpretationsversuche des Vounous-Modells basiert aber gerade auf dem Dilemma, unterschiedliche Handlungsschwerpunkte einem gleichzeitigen Handlungsrahmen unterzuordnen (Abb. 4): da ist zunächst eine feierlich anmutende Szene vor der "Bukranienwand" (gelb), daneben eine Gruppe von sechs stehenden Gestalten, die einen Kreis formen (grün), weiters ein Mann und zwei Rinder in einem Viehpferch rechts vom Eingang (grau). Links vom Eingang ein Mann vor einem zweiten Pferch, der ebenfalls zwei Rinder beherbergt, vor diesem stehen eine Frau mit einem Kleinkind und eine weitere Gestalt, beide mit dem Rücken zum Geschehen vor der "Bukranienwand" (blau). Zuletzt ist da sogar noch eine Figur außerhalb der Schüssel (rot).


Abb. 4: Das Vounous-Modell: räumliche Gliederung nach den Handlungsschwerpunkten (bearbeitet nach E. Peltenburg, Constructing Authority: The Vounous Enclosure Model, OpAth 20, 1994, 160 Abb. 1)

Dem Betrachter erschwert dieses Nebeneinander von Handlungselementen das Verständnis der Darstellung beträchtlich. Werden alle Vorgänge als gleichzeitig und an einem Ort stattfindend aufgefasst, so ist es offensichtlich, dass hier zumindest die Konzentration aller Beteiligten auf ein zentrales Geschehen fehlt. Ob dies mit dem Charakter einer Kulthandlung und der damit verbundenen feierlichen Inszenierung vereinbar ist, ist zu bezweifeln.

Neuere Ansätze

Einige neuere Interpretationen des Vounous-Modells weichen von der oben beschriebenen Tradition ab. Sie stellen den unmittelbaren "Realismus" der Wiedergabe von Architektur und Handlung in Frage.
Als nüchtern und unkonventionell erweist sich die Bearbeitung durch D. Morris [19]. Das einzigartige an der "Vounous-Schüssel" bildet nach Morris allein der Umstand, dass die szenische Darstellung in eine modifizierte Schüssel hinein projiziert wurde. Wir sehen demnach keine realitätsnahe Abbildung eines runden Heiligtums vor uns, sondern Bildelemente, die der Grundform der Schüssel angepasst wurden. Nach Morris wird ein Dorfplatz gezeigt, die Wandung der Schüssel entspricht den Mauern von Dorfgebäuden. Der "Bukranienwand" schreibt er eine apotropäische Funktion zu: "The bucranial poles [...] are probably protective signs placed on the outside of a building [...]."[20] Analog verfährt Morris mit dem Handlungsaspekt: er sieht kein bestimmtes punktuelles Ereignis abgebildet, sondern eher ein Genremotiv; dargestellt sind Menschen, die abends nach der Arbeit rasten und am Dorfplatz miteinander schwatzen - eine Alltagsszene.
Das zentrale Argument für diese Deutung findet Morris im inhaltlichen Vergleich mit den auf Vasen applizierten "szenischen Kompositionen", meist größere Gefäße, die ihr Figureninventar auf der Schulter tragen [21]. Diese zeigen - seiner Einschätzung nach - durchwegs Szenen aus dem täglichen Leben. Tatsächlich werden bevorzugt Arbeitsabläufe, z. B. die Erzeugung von Brot, wiedergegeben. Es gibt aber auch Bildelemente, etwa die Darstellung einer Geburt [22], die nicht ohne weiteres als "alltäglich" zu bezeichnen sind. Einige der "szenischen Kompositionen", unter ihnen auch das Vounous-Modell, scheinen darüber hinaus regelrechte Bildprogramme zu spiegeln [23]. Die Gefäße dienten als Grabbeigaben und wurden vermutlich speziell für diesen Zweck angefertigt; es liegt gewiss nicht fern, auch den darauf befindlichen Darstellungen eine wie auch immer geartete symbolische Bedeutung in ihrem sepulkralen Kontext zuzuschreiben. Morris' Hauptargument ist also nicht zwingend. Darüber hinaus kann seine eher kursorische Interpretation der einzelnen Bildelemente nur teilweise überzeugen und wurde deswegen auch kritisiert [24]. Angesichts dieser Einwände bleibt dennoch festzuhalten, dass Morris das Verdienst zukommt, traditionell-festgefahrene Erklärungsmuster in Frage gestellt zu haben. Besonders seine sachliche Betrachtung der bronzezeitlichen Bukranien und Rinderdarstellungen hebt sich wohltuend von vielem ab, was zum Thema geschrieben wurde [25].
In Morris' Interpretation sind beim Vounous-Modell einzelne, an ein reales Geschehen angelehnte Elemente gleichsam genremäßig zusammengefasst, E. Peltenburg geht in seinen Erklärungsansätzen noch einen Schritt weiter. Er deutet die Szenen in der Schüssel als Allegorie: "What is symbolized is the idealized 'good life': [...]." [26]
In einer späteren Arbeit [27] verdeutlicht er seine Interpretation. Nicht das allgemein gehaltene Gleichnis vom "angenehmen Leben", sondern Kulturwandel und die Sanktifizierung der Autorität von neuen gesellschaftlichen Eliten, die aus diesem Kulturwandel hervorgehen, stehen im Zentrum der Betrachtung. In einem kurzen historischen Abriss schildert Peltenburg die sozialen und ökonomischen Brüche zwischen Chalkolithikum und früher Bronzezeit, wie sie aus den archäologischen Befunden abzulesen sind und wie sie auch beim Vounous-Modell ihre Ausprägung finden. Er folgert daraus das Entstehen einer Oberschicht in der frühen Bronzezeit, die ein massives Interesse daran hat, die neuen gesellschaftlichen Bedingungen als "gottgewollte Ordnung" darzustellen. Diese spiegelt sich nach Peltenburg in der räumlichen Struktur des Vounous-Modells [28]: seitlich des Eingangs stehen Rinder als Statussymbole einer prosperierenden Gesellschaft, damit assoziiert verkörpern Frau und Kind weitere Aspekte von Fruchtbarkeit und Vitalität. Darüber sechs Männerfiguren im Kreis, Abbild der männlichen Entscheidungsträger der Gemeinschaft. Die thronende übergroße Figur gegenüber der "Bukranienwand" präsidiert ein Ritual, durch das die abgebildete Sozialstruktur vor den Symbolen transzendentaler Kräfte ihre Legitimation erfährt: "Thus, the role of the bucranial pillars and associated rites was to impart to the portrayed new order a sanctity so that 'it will be accepted unquestionably as true'." [29]
Peltenburg fokussiert bei seiner Interpretation des Vounous-Modells die konstitutive Rolle der Kultelemente bei der Etablierung und Rechtfertigung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Er präsentiert ein räumlich-hierarchisches Muster, das zu überzeugen weiß. Die Gesamtheit der Vorgänge wird durch seine Beschreibung aber nicht erfasst. So findet die rätselhafte Figur an der Außenwand der Schüssel, die über eine Mauer ins Innere zu spähen scheint, weder gesonderte Erwähnung noch Erklärung.

Von der "realistischen" zur "idealtypischen" Auffassung

Als Kriterium für die Differenzierung verschiedener methodischer Zugänge zum Vounous-Modell wird in diesem Beitrag der "Realismus" herangezogen, der dem Artefakt zugeschrieben wird. Der Bogen reicht dabei von der "wirklichkeitsgetreu" aufzufassenden Handlung an einem "wirklichkeitsgetreu" wiedergegebenen Schauplatz über eine "wirklichkeitsnahe" Genredarstellung bis hin zu einer gleichnishaft-abstrakten Form der Wiedergabe von "Wirklichkeit", der Allegorie.
Die Handlung (die dargestellten Szenen) zeigt größtenteils vertraute Elemente aus der kyprischen Ikonographie, der Handlungsrahmen (die "Architektur") vereinigt mehrere Merkmale, wie sie bei älteren Bauwerken auf der Insel Zypern nachgewiesen sind [30].

Die Interpretation des Modells als kreisförmiges offenes Temenos muss ohne archäologische Evidenz auskommen und basiert auf einer konsequent "realistischen" Auffassung. Das stärkste Argument für eine Deutung als Temenos, das von einer niederen Umfassung umgeben ist, bildet jene Figur, die von außen über eine Art von Mauer das Geschehen zu beobachten scheint [31]. Auch die Gestaltung der Pfeiler mit den Tierschädeln, die über eine brettartige Rückwand hinausragen, spricht eher für eine offene Bauweise [32].
Eine Deutung des Modells als Siedlungsgebäude [33] kann sich dagegen auf die Kreisform und auf vergleichbare architektonische Innenstrukturen stützen [34]: da sind die radial ansetzenden Mauern der Viehpferche, die Lage des Sakralbereiches (der "Bukranienwand") gegenüber dem Eingang und dessen symbolische Abgrenzung vom übrigen Raum durch eine niedrige Bodenerhebung. Problematisch ist der chronologische Aspekt der Kreisform. Denn im Gegensatz zum Hausmodell aus Kissonerga, dessen Deutung als Wiedergabe eines Gebäudes durch die Siedlungsarchitektur dieser Periode ausreichend Bestätigung erfährt [35], stellt das Vounous-Modell nach wie vor das einzige Zeugnis für ein Herabreichen dieser Bauweise in die frühe Bronzezeit dar [36].

Abb. 5: Modell einer "Bukranienwand" aus der Nekropole bei Kotchati (nach V. Karageorghis, Das Zypern-Museum [1989] 27)

Eine Möglichkeit, die Widersprüche zu entschärfen, besteht darin, die Anregung von Morris aufzugreifen und den Begriff der "szenischen Komposition" für das Vounous-Modell in seiner wörtlichen Bedeutung - und damit konsequenter als Morris selbst dies getan hat - anzuwenden. Dadurch wird es denkbar, dass einzelne, durchaus realistisch wiedergegebene Szenen und die damit verbundenen architektonischen Gestaltungselemente - die miteinander zwar in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen, aber nicht notgedrungen gleichzeitig und am selben Ort vor sich gehen müssen - in die Form einer modifizierten Schüssel hinein projiziert wurden [37]. Unter dieser Voraussetzung bildet der räumliche Zusammenhang - wie bei den anderen "szenischen Kompositionen" - keine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der Umgebung, sondern resultiert aus einer Dramaturgie, die "idealtypischen" Gesichtspunkten folgt [38]. Dies würde einerseits die Heterogenität der gesamten Komposition erklären helfen, das Widerspiel von sakralen und profanen Elementen, andererseits würden aber auch einzelne Gestaltungselemente besser mit dem bereits vorhandenem Vergleichsmaterial übereinstimmen. So zeigt die "Bukranienwand" im Vounous-Modell eine der Schüsselform entsprechende Krümmung, während alle restlichen bekannten Modelle solcher "Bukranienwände" dagegen durchwegs gerade bzw. rechwinkelige Formen aufweisen (Abb. 5) [39]. Der "Türsturz, der die Außenmauer überragt" [40], brauchte seine Ähnlichkeit mit einer einfachen und verbreiteten Gestaltung von Handgriffen nicht mehr zu verleugnen, auch die "Temenosmauer" könnte zunächst einmal bleiben, was sie ganz offensichtlich ist: die Wandung einer Schüssel.
Die räumliche Disposition innerhalb der Schüssel wird durch Peltenburgs Gliederung nachvollziehbar dargestellt. Um aber alle Vorgänge vollständig zu beschreiben, ist eine zusätzliche "Gruppe" nötig: sie umfasst die Figur an der Außenseite des Modells und die mit ihr in irgendeiner Art von Wechselbeziehung stehenden Figurengruppen im Inneren.
In einer "wirklichkeitsnahen" bzw. "wirklichkeitsgetreuen" Auffassung des Vounous-Modells spiegelt der Kontrast zwischen "innen" und "außen" primär ein räumliches Verhältnis. So ist diese Figur in Morris' Genreszenario einfach jemand, der durch ein Fenster hinaus auf den Dorfplatz blickt [41]. Geht man andererseits davon aus, dass innerhalb der Schüssel ein bestimmtes Ritual realistisch wiedergegeben wird, so muss diese Figur jemanden verkörpern, der (aus welchen Gründen immer) an diesem Ritual nicht teilnehmen darf, kann oder will und der dieses Ritual (allem Anschein nach heimlich) beobachtet [42]. Akzeptiert man hingegen den oben vorgeschlagenen "idealtypischen" Interpretationsansatz, lassen sich nahezu beliebig viele Oppositionspaare assoziieren. So bietet sich z. B. (entsprechend dem sepulkralen Fundkontext des Vounous-Modells) ein Gegensatz zwischen "dieser Welt" und "jener Welt" an. Das zentrale Element im Vounous-Modell bildet vermutlich die Szene vor der "Bukranienwand", mit der die weiteren Handlungsschwerpunkte (der "Männerbund", der durch die Figuren im Kreis gebildet wird, die "häusliche Szene", die u. a. eine Frau mit Kind und das Vieh zeigt, und zuletzt die oben beschriebene Gruppe) durch ein gemeinsames Konzept verbunden sind. Es ist das naheliegendste - wie dies auch immer wieder in verschiedener Form geschehen ist - für das Gesamtgeschehen einen kontextuellen Bezug zum Fundort zu vermuten. Im Zentrum der Darstellung stehen damit "[...] Handlungen und Maßnahmen, die im Zusammenhang mit einem Todesfall stehen und die zur Loslösung des Verstorbenen aus dem Diesseits vorgenommen werden."[43] Vielleicht ist es also die Seele eines Verstorbenen, die von außerhalb auf die Welt der Lebenden zurückblickt und dabei auch ein Ritual verfolgt, das der Kommunikation mit dem Jenseits dient.

Schlussbemerkung

Die von Morris eingeschlagene Richtung, das Vounous-Modell in eine Reihe mit anderen erhaltenen "szenischen Kompositionen" zu stellen, dient in dem hier vorgeschlagenen Ansatz als Grundlage dafür, die unmittelbare Wirklichkeitstreue des Objektes in Frage zu stellen. Auch die von Peltenburg vertretene räumlich-hierarchische Strukturierung im Inneren der Schüssel spricht dafür, eher einzelne Motive mit unterschiedlichen Schauplätzen (ein Siedlungsbau und ein Kultplatz im Freien?) als eine einheitliche Szene zu vermuten. Die einzelnen Bildelemente ergeben durch ihr Zusammenspiel ein symbolisch-verschlüsseltes Ganzes, dem ein vielschichtiges Bedeutungsgeflecht zugrunde liegt [44].
Für die bronzezeitlichen Menschen mögen diese Bedeutungen evident gewesen sein, dem modernen Betrachter wird der Zugang durch ihre Komplexität erschwert. Um diese Bedeutungen zu erkunden, ja schon allein um die Frage zu klären, was denn eigentlich im Vounous-Modell dargestellt sei, ist es bei aller methodischen Sorgfalt unvermeidlich, das Gebiet der nüchternen Bildbeschreibung zu verlassen und ikonographische Zusammenhänge mit (mehr oder weniger) frei gewählten Assoziationen zu belegen. Diese ergeben zusammen die vorgetragene hypothetische Deutung des Modells, sie bilden die Grundlage, auf der alle Schlüsse über dessen Form und Inhalt beruhen. Da aber Schlüsse, die von nicht überprüfbaren Voraussetzungen ausgehen, beliebige Ergebnisse zeitigen, lässt sich unsere Hypothese - hier teilt sie das Schicksal vieler anderer Vermutungen, die über das Vounous-Modell angestellt wurden - weder bestätigen noch widerlegen. Sie ist lediglich ein um logische Konsistenz bemühtes "Sprachspiel" [45], der Versuch einer Annäherung an ein rätselhaftes Stück Vergangenheit.

[1] Vgl. z. B. unlängst P. Flourentzos, A Unique Scene on a Cypriote Red Polished Jug, Journal of Prehistoric Religion 9, 1995, 17: "It is worth mentioning that circular shrines are used for religious purposes were popular in Early/Middle Bronze Age Cyprus [...]."
[2] P. Dikaios, The Excavations at Vounous-Bellapais in Cyprus, 1931-2, Archaeologia 88, 1940, 50-52 Nr. 26 Taf. VII-VIII. Für eine detaillierte Beschreibung sei hier auf die neueren Arbeiten von D. Morris, The Art of Ancient Cyprus (1985) 281-283 Abb. 494 und V. Karageorghis, The Coroplastic Art of Ancient Cyprus. I. Chalcolithic - Late Cypriote I (1991) 139-142 Nr. 1 Taf. C-CI verwiesen.
[3] Vgl. hierzu zwei Modelle von "Bukranienwänden": V. Karageorghis, Two Religious Documents of the Early Cypriote Bronze Age, RDAC 1970, 10-13; Morris a. O. 283-284 Abb. 496-497; P. Åström, A Cypriote Cult Scene, Journal of Prehistoric Religion 2, 1988, 5-11 und Karageorghis a. O. (Anm. 2) 142-143 Nr. 3-5 Taf. CII-CIII.
[4] Vgl. hierzu auch die Kopfbedeckungen der Figuren auf Vasen mit "szenischen Kompositionen" (siehe unten Anm. 21).
[5] P. Dikaios, Le cultes préhistorique dans l'île de Chypre, Syria 13, 1932, 345-354; ders., Early Bronze Age Cults in Bronze Age Cyprus as Revealed by the Excavation at "Vounous", Bellapais, in: Proceedings of the First International Congress of Prehistoric and Protohistoric Sciences, London 1932 (1934); ders. a. O. (Anm. 2) 118-125.
[6] R. Dussaud, Culte funéraire et culte chthonien à Chypre à l'âge du bronze, Syria 13, 1932, 225.
[7] z. B. D. Frankel - A. Tamvaki, Cypriote Shrine Models and Decorated Tombs, The Australian Journal of Biblical Archaeology II 2, 1973, 42.
[8] s. dazu Karageorghis a. O. (Anm. 2) 141.
[9] Dikaios a. O. (Anm. 2) 119.
[10] D. Frankel - J. Webb, Marki Alonia. An Early and Middle Bronze Age Town in Cyprus. Excavations 1990-1994, SIMA 123,1 (1996) 1 mit weiteren Verweisen.
[11] Karageorghis a. O. (Anm. 2) 140.
[12] E. Peltenburg, A Ceremonial Area at Kissonerga. Lemba Archaeological Project II 2, SIMA 70,3 (1991) 103: "In demanding grandiose establishments or distinctive architecture to verify the existence of cult we impose later ideas of the highly articulated division between the sacred and the secular which may be inappropriate to many small-scale societies."
[13] Ders. a. O. 105.
[14] Ders., The Beginnings of Religion in Cyprus, in: ders. (Hrsg.), Early Society in Cyprus (1989) 110-113.
[15] SCE II 821 f.
[16] SCE IV 1C 1 Abb. 1
[17] J. M. Webb, Funerary Ideology in Bronze Age Cyprus - Toward the Recognition and Analyses of Cypriote Ritual Data, in: G. C. Ioannidis (Hrsg.), Studies in Honour of Vassos Karageorghis (1992) 94-96.
[18] Karageorghis a. O. (Anm. 2) 140.
[19] Morris a. O. (Anm. 2).
[20] Ders. a. O. (Anm. 2) 283.
[21] Überblick s. ders. a. O. (Anm. 2) 264 ff. Abb. 488-493 Taf. 290-302; Karageorghis a. O. (Anm. 2) 117 ff. Taf. LXV-LXXX.
[22] Auf einer tiefen konischen Schüssel im Pierides-Museum, Larnaca: s. V. Karageorghis et al., Antike Kunst auf Zypern im Museum der Pierides Stiftung (1985) 70 Nr. 37; Morris a. O. (Anm. 2) 277-278 Abb. 490 und Karageorghis a. O. (Anm. 2) 120 Nr. 8 Taf. LXXVIII-LXXIX.
[23] z. B. im Falle des Pierides-Gefäßes (s. o. Anm. 22) einen Lebenszyklus.
[24] s. Karageorghis a. O. (Anm. 2) 141 und E. Peltenburg, Constructing Authority: The Vounous Enclosure Model, OpAth 20, 1994, 158.
[25] Morris a. O. (Anm. 2) 190-203.
[26] Peltenburg a. O. (Anm. 12) 106.
[27] Ders. a. O. (Anm. 24) 157-162.
[28] Ders. a. O. (Anm. 24) 159 f. Abb. 1.
[29] Ders. a. O. (Anm. 24) 160 f.
[30] E. Peltenburg, Recent Developments in the Later Prehistory of Cyprus, SIMA Pocket-book 16 (1982) 128 f. Abb. 6.
[31] Dikaios a. O. (Anm. 2) 121.
[32] Åström a. O. (Anm. 3) 8.
[33] Peltenburg a. O. (Anm. 30) 97.
[34] Vgl. D. Bolger - E. Peltenburg, The Building Model, in: Peltenburg a. O. (Anm. 12) 18 Abb. 3.
[35] E. Peltenburg, Kissonerga-Mosphilia: A Major Chalcolithic Site in Cyprus, in: Symposium: Chalcolithic Cyprus (1991) 25.
[36] Zu den Unterschieden zwischen dem Hausmodell aus Kissonerga und dem Vounous-Modell bezüglich Kontext, Funktion und Form s. Bolger - Peltenburg a. O. (Anm. 34) 13.
[37] In der Form ähnlich, allerdings mit viel niederer Wandung, sind z. B. die "Backbleche" aus Siedlungsfunden, vgl. J. E. Coleman - J. E. Barlow, Cornell Excavations at Alambra, 1978, RDAC 1979, 163 f. Abb. 2 = J. A. Barlow, Cornell Excavations at Alambra, 1980, RDAC 1981, 94.
[38] s. auch T. Cullen, RP III Mottled Bowl with Modelled Figures, in: I. A. Todd, Vasilikos Valley Project 1: The Bronze Age Cemetery in Kalavasos Village, SIMA 71,1 (1986) 153: "[...] the bowl from Kalavasos [...] present a number of thematically related scenes in a loose temporal sequence."
[39] s. o. Anm. 3.
[40] I. Bretschneider, Architekturmodelle in Vorderasien und in der östlichen Ägäis vom Neolithikum bis ins 1. Jahrtausend (1991) 23.
[41] Morris a. O. (Anm. 2) 282.
[42] Dikaios deutet die Szene als Mysterienkult, die Figur außen verkörpert eine Person, die nicht in diesen Kult initiiert ist und durch Wächter am Eingang ferngehalten wird. s. P. Dikaios, Le cultes préhistorique dans l'île de Chypre, Syria 13, 1932, 348.
[43] W. Hirschberg (Hrsg.), Neues Wörterbuch der Völkerkunde (1988) 483 s. v. Totenkult (G. Weiss).
[44] Peltenburg a. O. (Anm. 24) 159.
[45] F. Wallner, Acht Vorlesungen über den Konstruktiven Realismus2 (1991) 76.

© Lotte Dollhofer, Wien - Kurt Schaller, Unterweitersdorf
e-mail:
a8826076@unet.univie.ac.at
k.schaller@aon.at

This article will be quoted by L. Dollhofer - K. Schaller, Über die Quadratur kreisförmiger Heiligtümer der kyprischen Bronzezeit, in: Altmodische Archäologie. Festschrift für Friedrich Brein, Forum Archaeologiae 14/III/2000 (http://farch.net).



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